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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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die „bekannte Weltgeschichte nur als ‚Außenseite‘ des geistigen Gesamtprozesses der<br />

Menschheitsentwicklung.“ 19 Der innere Aspekt der Geschichte ist <strong>für</strong> Steiner das Werden<br />

des Menschen <strong>und</strong> seines Bewußtseins, die Veranlagung <strong>und</strong> Entfaltung seiner Wesensglieder<br />

durch die Kulturepochen hindurch.<br />

Die überlieferte Geschichte ist oft eine von den jeweiligen Siegern geschriebene, die<br />

als „fable convenue“ weitergegeben wird. Steiner lenkt den Blick nicht nur auf die gewordene,<br />

sondern auch auf die nichtgewordene Geschichte, die zunächst abgebogenen <strong>und</strong><br />

zurückgedrängten Impulse, die dennoch nicht tot sind. Geistige Einschläge sind die entscheidenden<br />

Anstöße des geschichtlichen Fortschritts <strong>und</strong> seiner Dialektik. Diese Einschläge<br />

gerinnen schließlich in <strong>soziale</strong>n <strong>und</strong> ökonomischen Gestaltungen. „Das so Verfestigte<br />

unterliegt nach einiger Zeit dadurch, daß sich die geistige Verfassung der Individuen<br />

in zielstrebiger Richtung weiterentwickelt hat, den attackierenden neuen geistigen<br />

Einschlägen, die sich gegen das Gewordene durchsetzen wollen <strong>und</strong> müssen.“ 20 Ab 1916<br />

hat Steiner seine Geschichtsauffassung als „symptomatologisch“ bezeichnet: Man kann<br />

hinter den Schleier der ,geträumten Geschichte‘ dringen, „wenn man sich mit dem Bewußtsein<br />

durchdringt, daß alles, was man durch die Archive, die Dokumente, die Denkmäler,<br />

kurz mit dem gewöhnlichen bewußten Verstand erfahren kann, so zu benutzen ist,<br />

daß man es wertet <strong>und</strong> würdigt, indem man es bezieht auf etwas, wo<strong>für</strong> es ein Symptom<br />

ist, wo<strong>für</strong> es ein Ausdruck ist.“ 21 Diese Methode „führt zu zwei Gr<strong>und</strong>einsichten: Einerseits<br />

lernt man, daß die Impulse, die bestimmte Menschengruppen zu bestimmten Zeiten ergreifen,<br />

geistig wesenhafter Natur sind. Zum anderen führt die Selbsterkenntnis dazu,<br />

daß man die geschichtliche Existenz der menschlichen Individualität sehen <strong>und</strong> besser<br />

verstehen lernt [...] Lessing, der die Geschichte als eine Erziehung des Menschengeschlechts<br />

begreift, wird durch diesen Gedanken zu dem anderen geführt, daß jeder<br />

Mensch des gesamten Erziehungsganges teilhaftig werden sollte: Jede menschliche<br />

Individualität durchläuft die Epochen der Weltgeschichte <strong>und</strong> in jeder Epoche lernt sie<br />

Neues [...] In der Tat findet jeder Mensch, der sich geistig in sein Inneres vertieft, frühere<br />

Daseinstufen in sich, Erfahrungen, aufgr<strong>und</strong> deren er andere Wesen verstehen <strong>und</strong> sich<br />

in sie hineinversetzen kann. Diese früheren Daseinsstufen enthüllen sich der Selbsterkenntnis<br />

als solche, die nur im zeitlichen Nacheinander zu denken sind. Der Mensch<br />

selber wird in dieser Sicht zu einem Bindeglied der geschichtlichen Epochen. Die Individualität<br />

trägt, was sie in einem Leben erworben hat, in eine neue Epoche hinüber [...]“ 22<br />

Was die Unterschiede in der Auffassung des ökonomischen Prozesses <strong>und</strong> seiner<br />

Bedeutung <strong>für</strong> das gesellschaftliche Leben zwischen Steiner <strong>und</strong> Marx angeht, so liegen<br />

sie nicht etwa in der Bestimmung der Elemente des Arbeitsprozesses, auch nicht in der<br />

Einschätzung der Rolle der Arbeit als „Lebenssubstanz der Individualität“. 23 Worin sich<br />

Steiner prinzipiell <strong>und</strong> vor allem anderen von Marx unterscheidet, ist seine Einschätzung<br />

der Individualität als primär geistiger Größe. Auch der <strong>Marxismus</strong> sieht den arbeitenden<br />

Menschen als „Hauptproduktivkraft“, aber er ist <strong>für</strong> ihn ein primär physisch-materielles<br />

Wesen. Wäre es anders, müßte der <strong>Marxismus</strong> die seinen „historischen Materialismus“<br />

unterminierende Konsequenz ziehen, daß die Fähigkeitswerte, die das ökonomische<br />

Leben permanent befruchten, nicht ihm selbst, sondern dem Leben des Geistes entstammen.<br />

- Das gilt schon <strong>für</strong> die sogenannte einfache körperliche Arbeit. Nicht nur sind<br />

Produktionsmittel materiell vergegenständlichte Gedanken, die Struktur der materiellen<br />

Produktion ist überhaupt keine „Materie“, sie ist als Betriebs- <strong>und</strong> Wirtschaftsordnung in<br />

hohem Maße Ergebnis von menschlichen Überlegungen, Erfahrungen <strong>und</strong> Entscheidungen.<br />

Die materielle Produktion dient zudem immer raffinierteren, verfeinerten, in gewissem<br />

Maße auch bereits veredelten Bedürfnissen, die als solche nicht bloß materiellphysische<br />

Quellen haben können. „Was man materielle Kultur nennt“, schreibt Steiner,<br />

„[...] besteht in den Diensten, die das Denken“ (die Verstandesseele) „der Empfindungsseele<br />

leistet. Unermeßliche Summen von Denkkräften werden auf dieses Ziel gerichtet.<br />

Denkkraft ist es, die Schiffe, Eisenbahnen, Telegraphen, Telefone gebaut hat <strong>und</strong> alles<br />

das dient zum größten Teil zur Befriedigung von Bedürfnissen der Empfindungsseele.“ 24<br />

Nur ein Blinder könnte leugnen, daß das Motiv, eine Not wenden zu wollen, d.h. also<br />

die Not-Wendigkeit, eine gewaltige Rolle in der Geschichte spielt. Nicht darum also geht<br />

es zwischen <strong>Marxismus</strong> <strong>und</strong> <strong>Anthroposophie</strong>. Es geht auch hier um die Rolle der Indivi-<br />

19<br />

C. Lindenberg in: Steiner, Thementaschenbuch „Geschichtserkenntnis“, S. 149ff.<br />

20<br />

Schweppenhäuser 1985, S. 142.<br />

21<br />

GA 67, S. 202.<br />

22<br />

Lindenberg, a.a.O., S. 156f.<br />

23<br />

Vgl. Schmidt-Brabant 1984.<br />

24<br />

GA 9, S. 34. Vgl. vorher a. den Vortr. v. 30. 11. 1921 in GA 79.<br />

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