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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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<strong>soziale</strong>n Reibungen beruht auf dem Konflikt der Logiken kollektiven Verhaltens untereinander,<br />

ein anderer Teil auf dem Aufbegehren einzelner gegen diese Logiken.<br />

Steiner vollzieht also die Marxsche Hypostasierung der objektiven Bedingungen geschichtlichen<br />

Handelns zu dessen Ursachen nicht mit. Und wenn im Wörterbuch der marxistisch-leninistischen<br />

Philosophie von Klaus/Buhr festgestellt wird, die Verwirklichung<br />

des Willens, „die in der Willenshandlung vollzogen wird“, sei mit „der Überwindung innerer<br />

- im einzelnen Menschen selbst liegender - <strong>und</strong> äußerer - aus der gesellschaftlichen<br />

<strong>und</strong> natürlichen Umgebung resultierender Widerstände verb<strong>und</strong>en“ 16 , also doch wohl in<br />

hohem Maße gegen die Wirkungsrichtungen der objektiven Determinationsketten gerichtet,<br />

dann wird damit ungewollt die Berechtigung dieser Weigerung unterstrichen. Diese<br />

bedeutet auch, daß Steiner den Gestaltungsspielraum der Individuen in der Geschichte -<br />

im Guten wie im Bösen! - höher einschätzt als Marx, ohne jedoch seinen historischen<br />

Charakter zu negieren.<br />

Die These von der Freiheit als der Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können<br />

17 ist <strong>für</strong> den ethischen Individualismus nur die halbe Wahrheit. Denn die Kenntnis der<br />

Sache erspart ja die Entscheidung nicht, sondern befähigt den Handelnden nur zur richtigen<br />

Einschätzung der Realisierungsbedingungen <strong>und</strong> möglichen Folgen seiner Handlung.<br />

Der Entschluß, einem Fre<strong>und</strong> zu helfen, also die Realisierung der sittlichen Idee der<br />

Fre<strong>und</strong>schaft in einer bestimmten Situation, ist keine Folge der Sachkenntnis. Denn man<br />

kann wissen, womit man sachgemäß helfen könnte, <strong>und</strong> die Hilfe dennoch unterlassen.<br />

Jedes Handeln greift in Bestehendes ein; sinnvolles Handeln setzt daher die Kenntnis<br />

der Mittel voraus, mit denen ein bestimmter Zweck erreicht werden soll, die Beachtung<br />

der Gesetzmäßigkeiten des Objekts, mit dem umgegangen wird oder das verändert werden<br />

soll. Dieses „Know how“ - Steiner nennt es „moralische Technik“ - ist eine Voraussetzung<br />

des sittlichen Handelns, aber die Voraussetzung der Sache ist nicht die Sache<br />

selbst. Freiheit setzt Einsicht in die Notwendigkeit voraus. Aber die Einsicht in die Notwendigkeit<br />

ist noch nicht Freiheit. Es ist ja noch die Frage, ob eine Notwendigkeit in ihrem<br />

Sinn begriffen wird oder ob man sich einem Zwang beugt <strong>und</strong> die Sinnlosigkeit von Widerstand<br />

„einsieht“. Ein Zustand, in dem eine führende Partei unter Berufung auf ihr Wissen<br />

um die gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze die Notwendigkeit festlegt, während<br />

dem Fußvolk nur die Freiheit bleibt, sich einsichtsvoll in diese Notwendigkeit zu fügen, ist<br />

sicher noch nicht das verwirklichte Reich der Freiheit. Das Problem liegt jedoch noch<br />

tiefer. Wäre das Denken, das nicht nur Einsichten vollzieht, sondern auch Handlungsziele<br />

ersinnt, nicht durch sich selbst, sondern durch die Physiologie der höheren Nerventätigkeit<br />

bestimmt, dann wäre jedes Freiheitserlebnis nur eine illusionäre Vermeinung. Diese<br />

Problematik ist in der Engelsschen Freiheitsdefinition schlicht verdrängt. Äußere Umstände<br />

können den Menschen in „seinem Handeln, in der Ausführung seines Willens, in der<br />

Verwirklichung seiner intuitiv erfaßten Tatideen beschränken, hindern, sogar zwingen.<br />

Die gr<strong>und</strong>legende Frage ist, ob er in sich, in seinem Bewußtseinsleben frei ist. Ist er es<br />

nicht, so fällt das Problem der äußeren Umstände weg.“ 18<br />

Steiners Geschichtsauffassung, so sehr sie den Impuls der Freiheit in der Geschichte<br />

betont, leugnet nicht im mindesten die Wirksamkeit von geschichtlichen Faktoren, die<br />

dem bewußten Wollen der Menschen unzugänglich sind. „Sobald [...] man die Geschichte<br />

der menschlichen Handlungen, also die Geschichte im engeren Sinne untersucht, hat<br />

man es auf den ersten Blick nicht mit dem Ausdruck bewußter Geistigkeit zu tun“,<br />

schreibt C. Lindenberg. „Man blickt vielmehr auf ein Zusammenspiel ökonomischer Faktoren,<br />

gesellschaftlicher Strukturen, seelischer Dispositionen, bewußter Absichten, unerhellter<br />

Strebungen [...] Es ist gerade typisch <strong>für</strong> historische Handlungsabläufe, daß das<br />

Ergebnis größerer Unternehmungen ganz anders aussieht als das ursprünglich Beabsichtigte.“<br />

Luther wollte mit den 94 Thesen keine Kirchenspaltung, die Revolutionäre von<br />

1789 wollten weder den Terror noch Napoleon. Das geschichtliche Handeln entfaltet eine<br />

über das ursprünglich Beabsichtigte hinausgehende Eigendynamik, die meist „von den<br />

Mitmachenden <strong>und</strong> Miterlebenden“ nicht vollbewußt erfaßt wird. Dennoch kann man in<br />

der Geschichte Tendenzen, Richtungen <strong>und</strong> Kräfte erkennen, die sich oft gegen die herrschenden<br />

<strong>Institut</strong>ionen durchsetzen [...] Deshalb kann man davon sprechen, daß in der<br />

Geschichte tiefere Impulse wirksam sind, die Zeiten <strong>und</strong> Völker ergreifen [...] Der einzelne<br />

Mensch, der von diesen Impulsen ergriffen wird, erlebt sie in einem Bewußtsein, das in<br />

bezug auf seine Helligkeit mit dem Träumen zu vergleichen ist.“ So betrachtet erscheint<br />

125<br />

16 Buhr/Klaus, S. 1309.<br />

17 MEW 20, S. 106.<br />

18 Kühlewind 1983, S. 235.

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