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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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jene Formen her, durch deren Zugr<strong>und</strong>elegung a posteriori die Gesetzmäßigkeit der Erscheinung<br />

zum Vorschein kommt.“ 9<br />

Steiners Ansatz führt über die Alternative von Empirismus <strong>und</strong> Rationalismus hinaus.<br />

Er verwirft das Kriterium der Erfahrung nicht, er radikalisiert es, indem er die willkürliche<br />

Ausklammerung des Denkens als der höheren Erfahrung in der Erfahrung aus dem Erfahrungsganzen<br />

aufhebt. Indem er die kontrollierte seelische Beobachtung zur entscheidenden<br />

Methode der Erkenntniswissenschaft erhebt, gerät diese zur Erfahrungswissenschaft,<br />

ohne in einen bloßen Introspektionismus zu verfallen. Bei der vom Denken unerhellten<br />

Erfahrung haben wir es nicht, wie die Empiristen meinen, mit ‚Tatsachen der Wirklichkeit‘<br />

zu tun, sondern mit einer Unterlage <strong>für</strong> den Erkenntnisprozeß. Das Wesen einer<br />

Sache ist in ihrem unmittelbaren Gegebensein zunächst verhüllt <strong>und</strong> muß durch das<br />

Denken gef<strong>und</strong>en werden. Subjektiv ist dieses Denken nur hinsichtlich seiner Hervorbringung<br />

durch den Denkwillen des Erkennenden im Denkakt. In seiner selbstbestimmten<br />

Inhaltlichkeit ist das Denken subjekts- <strong>und</strong> objektsallgemein: Die Denkakte der Individuen,<br />

die den Begriff Dreieck hervorbringen, haben alle den gleichen intendierten Inhalt, der<br />

<strong>für</strong> alle individuellen Dreiecke gilt. Das Denken ist so das Auffassungsorgan <strong>für</strong> den immanenten<br />

Ideengehalt des Gegebenen. Daß Gegebenes <strong>und</strong> Begriff zunächst getrennt<br />

auftreten, gehört nicht zum Wesen der Sache, sondern ist der Struktur des Erkenntnisprozesses<br />

<strong>und</strong> der Organisation des erkennenden Subjekts zuzurechnen. Die Form, in<br />

der die Welt <strong>für</strong> den Erkennenden zunächst auftritt, die des fertig Gegebenseins, ist daher<br />

die zu überwindende, subjektive: Erst die durch den Erkenntnisakt gewonnene Gestalt<br />

des Weltinhalts kann, so Steiner, Wirklichkeit genannt werden. Erst durch das Denken<br />

beginnt die vorher stumme Wirklichkeit eine deutliche Sprache zu reden. Das Denken ist<br />

<strong>für</strong> Steiner der Dolmetscher, der die Gebärden der Erfahrung deutet, ihren Sinn entschlüsselt.<br />

Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit, so Steiner, ist die wahre<br />

Kommunion des Menschen. 10<br />

Für die an Kant orientierte Erkenntnistheorie galt der Satz ‚Die Welt ist meine Vorstellung‘<br />

faktisch als Axiom. Gegen keinen Satz hat Steiner wohl so häufig polemisiert wie<br />

gegen diesen. Begründet wird der Satz damit, daß jedes Objekt immer ein Objekt <strong>für</strong> ein<br />

Subjekt sei: Kein Objekt ohne Subjekt. Wie er E. v. Hartmann schreibt, will Steiner diesem<br />

Satz jedoch „keine andere als bloß logische Bedeutung zuerkennen.“<br />

Der Satz besagt <strong>für</strong> ihn „nichts weiter, als daß das Gegebene in bezug auf das ,Ich‘<br />

(diese beiden als Wahrnehmungsinhalt genommen) die logische Eigenschaft des Objekt-<br />

Seins, das Ich die des Subjekt-Seins erhält. Nicht aber wird über den Inhalt des als Objekt<br />

Auftretenden dadurch etwas ausgemacht, also auch nicht dieses, daß er meine Vorstellung<br />

ist.“ Steiner kann den „Schritt nicht mitmachen, durch den die empirisch gegebene<br />

Welt in das Bewußtsein hineingenommen wird [...] auch im Augenblicke eines Wahrnehmens<br />

rechne ich nur soviel zum Bewußtseinsinhalt, als dann als Erinnerungsvorstellung<br />

zurückbleibt.“ 11<br />

Insoweit der Mensch denkt, so Steiner, erteilt er sowohl den Phänomenen der Außenwelt<br />

als auch denen seiner subjektiven inneren Welt begriffliche Bestimmtheiten, lebt<br />

also im Denken in einer Tätigkeit, die im genannten Sinn Subjekt-Objekt-übergreifend ist.<br />

Soweit er wahrnimmt, hat er äußere Wahrnehmungen <strong>und</strong> Wahrnehmungen an sich<br />

selbst: er beobachtet sich in bezug auf seine Gefühle, Vorstellungen <strong>und</strong> Willensimpulse.<br />

Dabei macht er die Beobachtung, daß er von den gemachten Wahrnehmungen Vorstellungen<br />

zurückbehält, d.h. solche Begriffe, die mit bestimmten Erfahrungen über den Gegenstand,<br />

auf den sie sich beziehen, gesättigt <strong>und</strong> dadurch individualisiert sind. Nur in<br />

diesem Zusammenhang ist <strong>für</strong> Steiner der Begriff der Vorstellung sinnvoll. Der Satz von<br />

der Welt als meiner Vorstellung ergibt keinen Sinn, selbst wenn man den naheliegenden<br />

Einwand, daß der Unterschied zwischen Wahrnehmung <strong>und</strong> Vorstellung eines heißen<br />

Eisenstücks doch so erheblich ist, daß es ungerechtfertigt erscheint, sie mit dem gleichen<br />

Begriff zu bedenken, einmal beiseite läßt. Wenn Schopenhauer den Satz damit begründet,<br />

die Sonne sei uns nicht ohne das Auge <strong>und</strong> die Erde nicht ohne die fühlende Hand<br />

gegeben, dann vergißt er, so Steiner, daß Auge <strong>und</strong> Hand nicht weniger Wahrnehmungen<br />

sind als Sonne <strong>und</strong> Erde <strong>und</strong> deshalb mit dem gleichen Recht Vorstellungen genannt<br />

werden können wie diese. Damit aber hebt sich der Satz selbst auf. 12<br />

105<br />

9 ibd., 148. Vgl. vorher 146f.<br />

10 GA 3,S. 151; GA 1, S.89; GA 2,S.51. Vgl. vorher Witzenmann 1977,S. 77f.<br />

11 Brief vom 1. 11. 1894, nach Kugler 1978, S. 33.<br />

12 GA 4, S. 79. Vgl. S. 107.

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