Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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sind relativ selbständig <strong>und</strong> zugleich innig miteinander verb<strong>und</strong>en. So ist nicht nur ein<br />
chaotisches Durcheinanderwirken, sondern auch ihre Abschnürung voneinander verhängnisvoll.<br />
Die wesentliche Absicht Steiners besteht darin, die Gesellschaft als integrales Gefüge<br />
funktional ausdifferenzierter Subsysteme anzuschauen, wobei der Gedanke einer Gliederung<br />
der Gesellschaft als solcher nicht neu ist: nicht nur bei Marx, auch in der heutigen<br />
westlichen Soziologie ist er zu finden, z.B. in D. Bells Unterscheidung von ökonomischem,<br />
politisch-administrativem <strong>und</strong> kulturellem System, <strong>für</strong> die je eigene „axiale Prinzipien“<br />
gelten. 36 Steiner begegnet von vornherein der Gefahr soziologischer Modelle, die<br />
Gliederung gewissermaßen zu verräumlichen, so daß zum Geistesleben etwa nur die<br />
<strong>Institut</strong>ionen gerechnet würden, nicht aber geistige Betätigung auch in Wirtschaft <strong>und</strong><br />
Recht, durch die Betonung des funktionalen Aspekts.<br />
Steiner faßt die drei Ideale der französischen Revolution als die bestimmenden praktischen<br />
Ideen <strong>für</strong> den modernen Sozialorganismus auf, allerdings so, daß jede von ihnen<br />
nur als Ordnungsprinzip <strong>für</strong> ein bestimmtes gesellschaftliches Gebiet aufgefaßt werden<br />
darf: das Geistesleben soll freiheitlich, das Rechtsleben egalitär-demokratisch <strong>und</strong> das<br />
Wirtschaftsleben brüderlich-solidarisch verfaßt sein. Und dabei soll es sich nicht etwa um<br />
ausgedachte Maximen, sondern um vom Leben selbst geforderte Gestaltungsprinzipien<br />
der betreffenden Sphäre handeln. Die Forderungen nach Freiheit, Demokratie <strong>und</strong> Sozialismus<br />
sind <strong>für</strong> Steiner nur in solchem Aufeinander-Bezogensein vorwärtsweisend. Freiheit<br />
ohne Sozialismus ist <strong>für</strong> ihn genauso unerträglich wie Sozialismus ohne Freiheit oder<br />
Freiheit ohne Demokratie. Schäden im <strong>soziale</strong>n Organismus können demnach letztlich<br />
immer auf ein Überlappen der Gestaltungskräfte des einen Gebiets in eine ihm rechtmäßig<br />
nicht offenstehende Sphäre zurückgeführt werden. Wo schrankenlose Freiheit das<br />
Wirtschaftsleben bestimmt, bedeutet sie „Ellbogengesellschaft“, „Unternehmerwillkür“<br />
usw. Ebenso unsinnig wäre es, wirtschaftliche Entscheidungen durch „,demokratische<br />
Mehrheitsentscheidung“ zustande kommen zu lassen: Der Branchenfremde ist eben in<br />
bezug auf eine bestimmte Investitionsentscheidung oder die aus der Kostensituation sich<br />
ergebende Preisgestaltung nicht gleich urteilsfähig wie ein Mitarbeiter eines Betriebes der<br />
Branche oder auch ein Abnehmer. Anders verhält es sich bei allen Fragen, die sich durch<br />
Gesetze <strong>und</strong> Verträge regeln lassen bzw. geregelt werden müssen: Gesetze sollen <strong>für</strong><br />
alle gleichgelten, <strong>und</strong> darum sollen auch alle gleichberechtigt darüber befinden. Es ist<br />
dies die eigentliche Sphäre der parlamentarischen Demokratie, des Rechtsstaates. Dagegen<br />
ist es völlig unsinnig, über geistige Werte <strong>und</strong> Sinngebungen, über wissenschaftliche<br />
Auffassungen <strong>und</strong> Erziehungskonzepte Abstimmungen herbeiführen oder sie durch<br />
Gesetze regeln zu wollen, was nur dazu führen kann, daß Mehrheit Minderheit unterdrückt.<br />
Auf geistigem Gebiet ist aber Minderheitenschutz entscheidendes Gebot, Freiheit<br />
das Ordnungsprinzip. Wer z.B. <strong>für</strong> seine Kinder ein bestimmtes Erziehungskonzept be<strong>für</strong>wortet,<br />
muß das Recht haben, sich mit gleichgesinnten Trägern zu einem Schulverein<br />
zusammenzufinden <strong>und</strong> eine freie Schule zu unterhalten, Lehrer anzustellen usw. Ebenso<br />
muß, wer meint, über ein pädagogisches Konzept zu verfügen, dieses frei anbieten<br />
können. Der Rechtsstaat kann sich darauf beschränken, das Recht auf Bildung <strong>für</strong> alle zu<br />
garantieren <strong>und</strong> kann etwa durch die rechtliche Rahmengebung auch verhindern, daß<br />
kommerziell ausgerichtete Bildungseinrichtungen <strong>für</strong> Privilegierte entstehen. In der Praxis<br />
kann man sich heute auch eine produktive Leistungskonkurrenz zwischen staatlichem<br />
<strong>und</strong> freiem Schulsektor vorstellen.<br />
Die Idee der Dreigliederung des <strong>soziale</strong>n Organismus implizierte <strong>für</strong> Steiner die Forderung<br />
nach einer relativen Verselbständigung der drei Gebiete, die jeweils eine eigene<br />
Verwaltung erhalten <strong>und</strong> ihre gemeinsamen Angelegenheiten durch einen gemeinsamen<br />
Ausschuß oder dergl. ordnen sollten. Nachdem sich eine solche Neuordnung der gesamtgesellschaftlichen<br />
Verhältnisse nach 1919 zunächst nicht als durchführbar erwies,<br />
scheint Steiner eher an eine allmähliche Veränderung gedacht zu haben, die von einzelnen,<br />
auf den drei Gebieten im Sinne des Gleichheits-, Freiheits- bzw. Brüderlichkeitsgr<strong>und</strong>satzes<br />
arbeitenden Initiativen auf den Weg gebracht werden sollte. In diese Richtung<br />
gehen jedenfalls Überlegungen in jüngerer Zeit. 37<br />
Die heute zu konstatierende <strong>und</strong> im gesellschaftlichen Handeln zu berücksichtigende<br />
relative Verselbständigung der drei Glieder des <strong>soziale</strong>n Organismus ist ein Resultat des<br />
geschichtlichen Werdens: In den frühzeitlichen theokratischen Sozialgebilden hatten die<br />
beiden „unteren“ Gesellschaftsglieder jene relative Selbständigkeit noch nicht, ihr Leben<br />
130<br />
36 Vgl. Kugler 1981; BeIl 1979. Zum Gesamtkomplex Dreigl. s. im Literaturverzeichnis.<br />
37 Vgl. Leber 1984.