Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
sächlich <strong>und</strong> gesetzmäßig von innen bestimmt.“ 32 Während die materialistische Denkart<br />
aus dem Bankrott der naiv-teleologischen Betrachtungsweise ableitet, die Triebkraft der<br />
Evolution müsse gewissermaßen unterhalb der Zwecksphäre, in blindwirkenden Ursachen<br />
gesucht werden, sieht Steiner die Vorstellung von der Bewegungsordnung des<br />
Kosmos als einem solchen Zufallsprodukt als moderne Abart des W<strong>und</strong>erglaubens an.<br />
Bedenkt man, in welch komplizierter Weise die verschiedenen Körperfunktionen ineinandergreifen<br />
müssen, damit so etwas wie Atmung, Verdauung usw. zustandekommt, oder<br />
wie etwa beim menschlichen Oberschenkelknochen „mit der Aufwendung der geringsten<br />
Materialmenge die günstigste Wirkung an den Gelenkflächen‘ zum Beispiel die zweckmäßigste<br />
Verteilung der Reibung [...] erzielt wird“ 33 , so wird man die Ursachen da<strong>für</strong> nicht<br />
unterhalb, sondern oberhalb der Ebene der Zweckursachen ansetzen müssen, zu dem<br />
Gedanken gedrängt werden, daß in der Natur etwas Höheres wirkt als der Zweck. Die<br />
Theorie einer von der Dialektik von Notwendigkeit <strong>und</strong> Zufall gesteuerten Evolution operiert<br />
mit „Wahrscheinlichkeiten, die sich so wenig von null unterscheiden, daß sie <strong>für</strong> eine<br />
wissenschaftliche Betrachtung von Tatsächlichkeiten ganz einfach unwissenschaftlich<br />
sind.“ 34 Man könnte den Materialismus in diesem Zusammenhang auch als Sicherungsmechanismus<br />
<strong>für</strong> einen Narzismus betrachten, der die Existenz übermenschlicher Intelligenz<br />
nicht erträgt <strong>und</strong> das Gefühl davon verdrängt, indem er die Natur, in der diese Intelligenz<br />
wirksam ist, als ideenlos-materiell deutet.<br />
Das hervorstechendste Charakteristikum der Materie ist die Raumerfüllung. Aber<br />
Raum ist nichts Materielles, sondern eine Beziehung der materiellen Dinge aufeinander,<br />
<strong>und</strong> zwar die Beziehung des bloßen Nebeneinander, die äußerlichste Beziehung, die<br />
überhaupt möglich ist. Nur <strong>für</strong> das räumliche Verhältnis zwischen zwei Dingen bleibt deren<br />
qualitative Beschaffenheit gleichgültig.<br />
Die drei Raumdimensionen dürfen nicht als völlig gleichbedeutend genommen werden.<br />
Denn die erste Dimension stelle einen Bezug zwischen zwei Sinneswahrnehmungen<br />
her, die durch eine konkrete Vorstellung zu einer Einheit zusammengefaßt werden. Die<br />
zweite Dimension beziehe diese Bezüge wiederum aufeinander <strong>und</strong> gehe dadurch in das<br />
Gebiet der Abstraktion über. Die dritte Dimension endlich stelle nur noch die ideelle Einheit<br />
zwischen den Abstraktionen her. Der Raum ist <strong>für</strong> Steiner nicht ein Totum im Kantschen<br />
Sinne. Eine absolute Ortsbestimmung gibt es nicht, denn jedes „da“ deutet eigentlich<br />
auf einen dem gemeinten Gegenstand oder Punkt unmittelbar benachbarten. „Raum“<br />
ist die Idee, der gemäß die wirklichen Dinge als nebeneinander existierende geordnet<br />
sind, nicht, wie Kant glaubte, eine Anschauung. 35<br />
Die Existenz des einen materiellen Dings schließt die eines anderen an demselben<br />
Ort aus, während das Nebeneinander materieller Dinge ihre gegenseitige Ausschließung<br />
ausschließt. Wenn zwei Elemente A <strong>und</strong> B sich ausschließen <strong>und</strong> dennoch notwendig<br />
<strong>und</strong> wesentlich zusammengehören sollen müssen wir aus den bloß räumlichen Gegebenheiten<br />
in die Zeit übergehen: A <strong>und</strong> B müssen Prozeßphasen sein, die sich im Nacheinander<br />
bedingen, in der Gleichzeitigkeit aber am selben Gegenstand ausschließen, wie<br />
die Blüte die Knospe, die in ihrem Hervorbrechen verschwindet. Denken, Fühlen <strong>und</strong><br />
Wollen sind ungegenständlich <strong>und</strong> unräumlich, verlaufen aber sehr wohl in der Zeit, die<br />
gerade der „Raum“ des Seelenlebens ist. In diesem Raum herrscht nun nicht mehr Ausschließung,<br />
sondern wechselseitige Durchdringung, Bewegung, die gleichsam zu unräumlichen<br />
Formierungen gerinnt.<br />
Steiner ist der Meinung, daß die Wärmetod-Prognose mit der von ihm vertretenen Auffassung<br />
eines Anfangs von Raum, Zeit <strong>und</strong> Materie verb<strong>und</strong>en werden kann. An diesem<br />
Anfang steht <strong>für</strong> ihn die Tat höchster geistiger Wesenheiten, die ihre willenshafte innere<br />
Substanz opfern, aus der die Urerde entsteht, die an diesem Anfang ihrer planetarischen<br />
Metamorphosen, in ihrem „Saturnzustand“, reines, schöpferisches Wärmechaos ist. Und<br />
am Erdenende, so Steiner, wenn das planetarische Materielle abgestorben sein wird, das<br />
Geistige in gesteigerter, in durch den vom Geschöpf zum Mitschöpfer gewordenen Menschen<br />
individualisierter Form freigesetzt sein wird, dann werden geistige Mächte „aus<br />
dem Wärmetod heraus die Erde zu neuen Sonnensystemen“ führen. 36 Denn ohne geistigen<br />
Einschlag ermöglichen die Materiegesetze keine Aufwärtsentwicklung, sondern füh-<br />
32<br />
GA 4, S. 188.<br />
33<br />
GA 13,S. 115.<br />
34<br />
Thürkauf 1980, S. 145. Thürkaufs <strong>Marxismus</strong>-Auseinandersetzung ist allerdings in weiten Passagen überaus<br />
problematisch.<br />
35<br />
GA 1,S. 209ff.<br />
36<br />
Vgl. Vortr. 9. 4. 1908 in GA 56; vgl. GA 13.<br />
54