Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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Rolle auf, um den „Preis“ menschlicher Fähigkeiten schachern zu müssen, den die Unternehmerverbände<br />
möglichst zu „drücken“ bestrebt sind, <strong>und</strong> sich damit an der Perpetuierung<br />
eines real-falschen Zustandes zu beteiligen. Notgedrungen, aber auch mit der<br />
Tendenz, diese Rolle zu verinnerlichen. Volksaktien ändern nichts an der Wirtschaftsmacht<br />
der Großaktionäre, perpetuieren den Handel mit Rechten, <strong>und</strong> die Vermögensbildungskonzepte<br />
sollen letztlich nur die Masse der Arbeitenden an ein System binden, das<br />
nicht auf Sozialität, sondern auf universellem Egoismus aufgebaut ist.<br />
Die Rolle der nationalen Zusammenhänge neben den klassenmäßigen schätzt Steiner<br />
zwar höher ein als Marx, doch ist er ein erklärter Gegner von Nationalismus, Chauvinismus<br />
<strong>und</strong> Rassismus, in denen er Relikte überholter <strong>und</strong> gemeingefährlich gewordener<br />
Bewußtseinsverfassungen erblickt. Die ursprünglichen Menschengemeinschaften werden<br />
durch Blutsbande zusammengehalten. Ein erster entscheidender Schritt zuf Auflösung<br />
dieser sippenhaften Verhältnisse ist der Übergang von der Nahehe zur Fernehe. Heute<br />
ist die Menschheit in die Epoche der Freiheit eingetreten, sie differenziert sich mehr in<br />
Einzelpersönlichkeiten als in Nationen <strong>und</strong> Rassen. Das Ziel ist eine Gemeinschaft der<br />
Menschen, begründet auf allgemeiner Menschenliebe, unabhängig von Naturbanden.<br />
Der entscheidende Einschlag, der die Entwicklung zu diesem Ziel veranlagt, ist <strong>für</strong> Steiner<br />
der Christus-Impuls. Das Urchristentum ist es, das zum ersten Mal den Gedanken der<br />
Gleichheit aller Menschen als Kinder Gottes, unabhängig von Hautfarbe <strong>und</strong> Sozialstatus<br />
verwirklicht. Durch nichts, so Steiner, werde die Menschheit heute mehr in den Niedergang<br />
hineingezogen als durch das wie immer idealistisch verbrämte „Pochen auf Stammes-,<br />
Volks- <strong>und</strong> Rassenzusammenhänge“ 14 - eine Prognose, die sich durch den nazistischen<br />
Rassen-, Blut- <strong>und</strong> Bodenkult in furchtbarer Weise erfüllen sollte. Steiner kommt<br />
früh mit dem Nazismus in gegnerische Berührung. Er entgeht 1922 nur knapp einem<br />
Attentat „völkischer“ Studenten, seine Vortragstätigkeit in Deutschland wird unmöglich<br />
gemacht. Schon der junge Steiner zeigt sich angewidert vom Antisemitismus in der österreichischen<br />
Studentenschaft, in dem er eine Anschauung sieht, die bei ihren Trägern „auf<br />
Inferiorität des Geistes, auf mangelhaftes ethisches Urteilsvermögen <strong>und</strong> auf Abgeschmacktheit<br />
deutet“. 15<br />
Trotz dieses erklärten Anti-Nationalismus ist er ein beredter Verfechter legitimer nationaler<br />
Interessen, der mit Vehemenz die These von der deutschen Alleinschuld am Ersten<br />
Weltkrieg bekämpft. Dieser Krieg ist <strong>für</strong> ihn ein imperialistischer, hinter dem sowohl die<br />
Weltherrschaftsambitionen führender angelsächsischer Kreise stehen als auch mitteleuropäische<br />
Finanzkreise, „die eigentlich schon durch mehrere Jahre es gern gesehen hätten,<br />
wenn sie ihrer Wirtschaft durch einen Krieg hätten aufhelfen können [...] Die eigentlichen<br />
Kriegsveranlasser waren auf keinem Boden die Regierenden, sondern solche<br />
Mächte, die dahinterstanden.“ 16 Die Machenschaften jener Mächte, die schon damals auf<br />
die Zerstörung der europäischen Mitte als Weltfaktor abzielten, die Rolle eines politisch<br />
mißbrauchten Freimaurertums dabei, hat Steiner immer wieder im Detail beschrieben,<br />
zuweilen, etwa in Zusammenhang mit dem Sarajewo-Attentat, mit fast kriminalistisch<br />
anmutender Akribie. 17<br />
Steiners Stellung zur nationalen Frage muß man vor dem Hintergr<strong>und</strong> seiner Volksseelenk<strong>und</strong>e<br />
betrachten. Er knüpft mit ihr an die Weimarer Klassik an, die, z.B. bei Herder,<br />
die Nationalkulturen nicht gegeneinanderstellen <strong>und</strong> die Rolle einzelner Nationen<br />
nationalistisch überhöhen, sondern jeder ihre besondere Mission im Rahmen der Weltkultur<br />
zuweisen wollte. Die Volksseele ist <strong>für</strong> Steiner kein mystisch-nebulöses Ungebilde,<br />
sondern eine in bestimmter Weise aufzufassende Anlage im Denken <strong>und</strong> Empfinden der<br />
Menschen, die besonders in der Sprache zum Ausdruck kommt. Die Mission einzelner<br />
Völker liegt in der Ausgestaltung ganz bestimmter seelischer Eigenschaften. Ausgehend<br />
von dieser Gr<strong>und</strong>überlegung hat z.B. Herbert Hahn, Anregungen Steiners folgend, in<br />
seinem „Genius Europas“ eine faszinierende Phänomenologie der meisten europäischen<br />
Sprachen gegeben. 18<br />
So wie das individuell Psychische <strong>für</strong> Steiner mit dem Kosmos <strong>und</strong> dessen Wesenheiten<br />
zusammenhängt, so wirken <strong>für</strong> ihn auch in das Volkstum geistige Wesenheiten inspirierend<br />
hinein, wodurch die Geschichte der Nationalkulturen sich als ein Aspekt der geistigen<br />
Führung der Menschheit darstellt. Die Aufgabe der mitteleuropäischen Völker sieht<br />
Steiner als „Vermittlungs“aufgabe zwischen Ost <strong>und</strong> West, in gewissem Sinne - dieser<br />
170<br />
14 GA 177, Vortr. 26. 10. 17.<br />
15 GA 31, S. 199.<br />
16 GA 185a, S. 21f.<br />
17 S. GA 173. Zur Geschichte Mitteleuropas vgl. das ausgezeichnete Werk von Riemeck 1969.<br />
18 Vgl. GA 121, H. Hahn 1981.