Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse dieser Verbände <strong>und</strong> zur freien<br />
Entfaltung der Bedürfnisse <strong>und</strong> Kräfte des einzelnen.“ 42 Dieser Prozeß der Individualisierung,<br />
darauf gerichtet, den Menschen „auf die Spitze seiner Persönlichkeit zu stellen“,<br />
Autonomie, Freiheit, zu ermöglichen, strebt in der Neuzeit einem Höhepunkt zu. Während<br />
wir nach Steiner es beim ägyptisch-babylonisch-assyrischen Kulturkreis mit einer Kultur<br />
der Empfindungsseele zu tun haben, während wir bei der griechisch-römischen Kultur<br />
von einer Kultur der Verstandesseele sprechen können, während es sich bei der indischen<br />
oder gar chinesischen Kultur um noch ältere bewußtseinsgeschichtliche Formationen<br />
handelt, ist die neuzeitliche Entwicklung unseres Kulturkreises durch die Entfaltung<br />
der Bewußtseinsseele charakterisiert. 43 Diese drückt allen gesellschaftlichen Verhältnissen<br />
ihren Stempel auf. Erst jetzt kann die kapitalistische Produktionsweise entstehen,<br />
deren Protagonist zunächst die einzelne, wagemutige Unternehmerpersönlichkeit (man<br />
denke an die ersten großen Kaufherrn) ist. Deren Individualismus lebt sich aber erst einmal<br />
- abgestützt von der liberalistischen Ideologie - als ein Egoismus aus, der „nur die<br />
eigenpersönliche Selbstverwirklichung verfolgt <strong>und</strong> deren Interessen alle Wirtschaftsverhältnisse<br />
einordnet“. 44<br />
Das kapitalistische Privateigentum an den Produktionsmitteln ist mindestens ebensosehr<br />
die Ausgeburt dieser Bewußtseinsverfassung, wie diese, einmal entstanden, durch<br />
die Verallgemeinerung privateigentümlicher Verhältnisse verstärkt worden sein mag. Um<br />
ein anderes Beispiel zu verwenden, so ist die Verbreitung der Warenaustauschwirtschaft,<br />
die - indem sie qualitativ ungleiche Güter im Tausch gleichzusetzen nötigt - logischabstrakte<br />
Denkvorgänge erfordert <strong>und</strong> begünstigt, sicherlich erst durch die Verstandesseelenentwicklung<br />
möglich geworden, die sie dann aber auch wieder durch Rückwirkung<br />
verstärkt hat: Es ist der eine Impuls der Geburt des Gedankenlebens, der sich allen gesellschaftlichen<br />
Sphären mitteilt - das ist der wahre Zusammenhang von „Warenform <strong>und</strong><br />
Denkform“. 45 Die Verstandesseelenentwicklung ist also nicht der bloße ideologische Reflex<br />
des Gütertauschs.<br />
Der Übergang vom „Feudalismus“ zum „Kapitalismus“ ist in höherem Maße, als Marx<br />
annahm, ein bewußtseinsgeschichtlicher Wandel. Seine ersten Ansätze liegen da, wo<br />
Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden nicht mehr als Lehen, sondern im wirklichen Sinne des Wortes als<br />
privates Gr<strong>und</strong>eigentum empf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> rechtlich sanktioniert werden, Für die Jäger,<br />
Sammler <strong>und</strong> Nomaden ist noch alles wirtschaftliche Gut Geschenk der Götter, deren<br />
Gunst man sich durch Opfer versichert, denen man durch Opfer Dank abstattet. Erst in<br />
den Ackerbaukulturen wird das Produkt in höherem Maße etwas, das besessen werden,<br />
privat angeeignet werden kann. Diese Aneignungsmöglichkeit bezieht sich aber ursprünglich<br />
nicht auf den Boden als Produktionsmittel. Ihn empfindet man als dem Menschen<br />
von göttlichen Mächten nur „geliehen“ („Lehen“). Den Nomadenkulturen entspricht<br />
die Gestalt des Magiers, des Schamanen, Priesterkönigs usw. Die heute vorfindbaren<br />
„primitiven Kulturen“, die unter die Kategorie „Urgesellschaft“ fallen, sind <strong>für</strong> Steiner Abkömmlinge<br />
höherer Gesellschaftsformen, von denen Mythos, Sprache <strong>und</strong> Kunstformen<br />
noch schwache Nachklänge vermitteln. Die <strong>soziale</strong> Führung einer noch unmündigen<br />
Menschheit vollzieht sich in diesen Gesellschaften durch „Eingeweihte“ bzw. „Priesterkönige“:<br />
die Theokratie, von der sich Nachklänge bis in heutige „Personenkulte“ hinein erhalten,<br />
ist ursprünglich alles andere als Reflex von Ökonomie: vielmehr durchdringt das<br />
theokratische Geistesleben unmittelbar die Ökonomie, bestimmt <strong>und</strong> regelt sie, nach<br />
Gesetzen, die aus dem Kosmos, aus den Konstellationen der Gestirne abgelesen werden.<br />
„Das mittelalterliche Lehenswesen gründete sich auf die Anschauung, daß der Kaiser<br />
die Erdoberfläche von Gott zu Lehen bekommen habe. Die anderen Fürsten empfingen<br />
ihre Ländereien vom Kaiser als Lehen“ (Feudum) „<strong>und</strong> zugleich das Recht, ihrerseits<br />
das Lehen weiterzuleiten. Auf diese Weise baute sich eine Lehensordnung auf, die hinunterging<br />
bis zum letzten freien oder auch unfreien Bauern. Das Lehensrecht selbst<br />
war“ - bei den Merowingern -“entstanden durch eine Verbindung altkeltischer <strong>und</strong> römischer<br />
Rechtsformen [...]. Bei den Arabern war der Lehensbegriff ebenfalls durchgebildet<br />
[...]. Nur die Ernte konnte einen Eigentümer haben, der Gr<strong>und</strong> selbst aber konnte nur als<br />
Produktionsmittel zur Verfügung stehen. Daß in Griechenland die Gr<strong>und</strong>rechte auf der<br />
Anschauung beruhten, daß das Land der Stadt - Polis - oder vielmehr der Stadtgottheit<br />
gehörte <strong>und</strong> daher unter die Stadtbürger oder an Soldaten <strong>und</strong> Bauern, die sich um die<br />
Stadt verdient gemacht hatten, verteilt werden konnte, ist im Einklang mit der durchge-<br />
132<br />
42 GA 31 ,S. 255f.<br />
43 Näheres s. a. Lindenberg 1981.<br />
44 Wilken 1976, S. 330.<br />
45 Vgl. Sohn-Rethel 1971, der die Denkform von der Warenform ableiten will.