Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
sie nicht etwa. Wie sich eines zum anderen verhält <strong>und</strong> wie beides gestaltet ist, wird<br />
durch den Baugedanken des Ganzen bestimmt. Auch entzieht sich die ästhetische Dimension<br />
eines Bauwerks bloßen statischen Berechnungen, die vielmehr nur ein Mittel<br />
sind, sie hervorzubringen. Von einem Primat des Statischen <strong>und</strong> Materiell-Technischen<br />
wäre allenfalls in dem Sinne zu sprechen, daß dieser Aspekt immer mit bedacht sein will,<br />
weil ohne ihn alle ästhetischen Überlegungen im leeren Raum schweben würden bzw.<br />
ihre räumliche Vergegenständlichung alsbald in sich zusammenstürzen würde.<br />
Unstrittig ist die primäre Notwendigkeit, zu essen, zu trinken, sich zu kleiden, zu wohnen<br />
usw. Aber die Plackerei des Arbeitstages setzt kultureller Betätigung zwar Grenzen,<br />
bestimmt aber nicht notwendig ihren Inhalt. Das von abstrakter Intellektualität geprägte<br />
Geistesleben der Gegenwart kann man in der Tat mit Recht als bloßen Überbau über der<br />
materiell bestimmten Basis betrachten, doch ist diese Situation <strong>für</strong> eine konkrete historische<br />
Epoche charakteristisch <strong>und</strong> darf nicht zum Gr<strong>und</strong>gesetz des gesellschaftlichen<br />
Lebens überhaupt hochstilisiert werden. Denn erst <strong>für</strong> die modern bürgerliche Epoche hat<br />
das Wirtschaftsleben jene Übermacht in der Gesellschaft gewonnen. Wachstumsideologie,<br />
Ökonomisierung <strong>und</strong> Rationalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, Verwandlung<br />
von Staat <strong>und</strong> Bildungswesen in einen Zulieferer- bzw. Reparaturbetrieb des Kapitalismus<br />
- all das sind moderne Erscheinungen. „Marx hat zurecht festgestellt, daß die Geschichte<br />
<strong>und</strong> Politik seiner Zeit vor allem durch die Wirtschaftsinteressen der Staaten <strong>und</strong><br />
Gesellschaftsklassen geleitet wurde: Eine richtige Krankheitsdiagnose. Als Arzt hätte er<br />
sagen müssen: es ist so, nur soll es nicht so bleiben [...] schreibt G. Kühlewind. 33<br />
Das Geistesleben früherer Epochen durchdrang das praktische Leben in allen Details,<br />
in den Festen <strong>und</strong> Riten, den Sagen <strong>und</strong> Mythen, der kunst-handwerklichen Gestaltung<br />
der Gebrauchsgegenstände. Andererseits hat in dieser frühen Zeit die materielle Produktion<br />
selbst in hohem Maße kultischen Charakter, wird von den Vertretern des Geisteslebens<br />
organisiert: der profane Konsum wird durch Opfer geheiligt. „Die Mysterienpriester,<br />
nicht wirtschaftliche Unternehmungen, vollbrachten die mächtigsten technischen Werke<br />
des Altertums, die heute noch wie zur Zeit der Griechen als Weltw<strong>und</strong>er gelten.“ Ein großer<br />
Teil der technischen Erfindungen ist „zuerst <strong>für</strong> den Tempeldienst gemacht <strong>und</strong>“ dient<br />
„dem Kult. Auch das Haus, das die alten Höhlenwohnungen <strong>und</strong> die Nester der Wälder<br />
ablösen sollte, ist zunächst ein Tempelbau [...]“ Gold <strong>und</strong> Silber sind in älteren Zeiten<br />
„weniger wirtschaftliche Güter als kultische Substanzen“ mit magischer Bedeutung. 34 Die<br />
Regeln des Zusammenlebens sind durch religiöse Autorität fixiert, ein von der religiösen<br />
Sphäre relativ unabhängiges Rechts- <strong>und</strong> Staatsleben existiert in den „Theokratien“ nicht.<br />
Das Basis-Überbau-Schema trägt zum Verständnis der alten Sozialordnungen kaum bei.<br />
Auch wenn man es beiseite läßt, <strong>und</strong> sich an die Marxsche Sicht der Gesellschaft als<br />
eines sich im steten Fluß der Umbildung befindlichen Organismus bezieht, gerät man in<br />
einen Widerspruch zwischen dieser Charakteristik <strong>und</strong> der behaupteten Determination<br />
des Ganzen durch die Ökonomie. Denn beispielsweise im pflanzlichen Organismus sind<br />
die Verhältnisse an der Blüte, die doch wegen ihrer Unfähigkeit zur Kohlensäureassimilation<br />
von den anderen Gliedern mitunterhalten werden muß, nicht durch die Verhältnisse<br />
an Wurzel, Stengel usw. kausal bedingt, wie ja auch die Organe der Nahrungsaufnahme<br />
<strong>und</strong> -verwertung beim Menschen nicht etwa die Form des Hauptes „verursachen“. Steiners<br />
Begriff des <strong>soziale</strong>n Organismus ist da konsequenter: Er versucht, das lebendige<br />
Zusammenspiel <strong>und</strong> Miteinander-Verwoben-Sein der drei „Systeme“ Ökonomie, Rechts<strong>und</strong><br />
Kulturleben zu erfassen, die Wechselwirkung zwischen ihnen, bei der es keine eindeutige<br />
Dominante gibt. Man darf Steiners Dreigliederungsidee weder als Zahlenmystik<br />
noch als Analogiespiel auffassen. Der Rekurs auf biologische Organismen soll <strong>und</strong> kann<br />
das Erfassen der Spezifik des <strong>soziale</strong>n Organismus nicht ersetzen oder präjudizieren, er<br />
kann da<strong>für</strong> nur den Blick schärfen. Im <strong>soziale</strong>n Organismus ist, wenn überhaupt ein Vergleich<br />
angestellt werden soll, nicht wie schlichtes Analogie-Schließen annehmen würde,<br />
das Geistesleben Haupt, dieses Geistesleben entspricht vielmehr, weil es ständig den<br />
<strong>soziale</strong>n Organismus erneuert wie der Stoffwechsel den natürlichen, dem unteren Pol, die<br />
Wirtschaft mit ihrer Bedarfswahrnehmung entspräche dem Sinnes-Nervensystem <strong>und</strong><br />
allenfalls bei der vermittelnden Rolle des Rechtslebens wäre eine Analogie vorhanden. 35<br />
Dagegen kann der Blick auf den menschlichen Organismus lehren, die Dreigliederung<br />
nicht als starre Dreiteilung mißzuverstehen: Stoffwechselprozesse wirken auch in Nerven<br />
<strong>und</strong> Sinnen, die Verdauungsorgane sind von Nerven durchzogen, Blutkreislauf <strong>und</strong> Atmung<br />
wirken in die beiden anderen Systeme hinein usw. Die Glieder eines Organismus<br />
129<br />
33 Kühlewind 1984, S. 58.<br />
34 Häusler 1972, S. 50, 78, 140.<br />
35 Vgl. GA 328, S. 29.