Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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denken, die nicht des Denkens Motor, sondern sein Widerlager ist. Dem Wesenhaften,<br />
das im Denken wirkt, obliegt, so Steiner, die doppelte Aufgabe, zuerst die Eigenaktivität<br />
des Leiblichen zurückzudrängen <strong>und</strong> sich sodann an dessen Stelle zu setzen. So wenig<br />
wie man Fußspurenformen auf geheimnisvolle Kräfte des Erdinnern zurückführt, sowenig<br />
darf man die leiblichen Gegenbilder des Denkens <strong>für</strong> seine Ursache nehmen. Die durch<br />
das Denken <strong>und</strong> Vorstellen vermittelten Erlebnisse graben sich im Gehirn gleichsam ein,<br />
doch ist es allemal das Bewußtsein, das die Einprägung vornehmen <strong>und</strong> dann diese Engramme<br />
wahrnehmen muß: Die Bewahrerin der Erinnerung ist so die Seele selbst. 8<br />
Aber wenn „an dem Wesen des Denkens der menschlichen Organisation kein Anteil<br />
zukommt“, taucht natürlich die Frage auf, welche Bedeutung diese Organisation innerhalb<br />
der menschlichen Gesamtwesenheit hat. Was „in dieser Organisation durch das Denken<br />
geschieht, hat wohl mit der Wesenheit des Denkens nichts zu tun, wohl aber mit der Entstehung<br />
des Ich-Bewußtseins aus dem Denken heraus. Innerhalb des Eigenwesens des<br />
Denkens liegt wohl das wirkliche ,Ich‘, nicht aber das Ich-Bewußtsein [...] Man verwechsele<br />
das aber nicht mit der Behauptung, daß das einmal entstandene Ich-Bewußtsein von<br />
der Leibesorganisation abhängig bleibe. Einmal entstanden, wird es in das Denken aufgenommen<br />
<strong>und</strong> teilt fortan dessen geistige Wesenheit.“ 9 Die ,Bewußtseinsveränderungen<br />
von Schlafen, Wachen <strong>und</strong> Träumen sind an den hirnelektrischen Messungen (EEG)<br />
verfolgbar. Daran wird deutlich, daß das übliche Ich-Bewußtsein an objektivierbare Gehirnleistungen<br />
geb<strong>und</strong>en ist. So ist auch das Auftauchen unseres alltäglichen Ich-<br />
Bewußtseins im dritten Lebensjahr durch die neurologische Reifung des Vorderlappens<br />
des Großhirns möglich geworden“, heißt es bei Wolfgang Schad. 10<br />
Solche Einsichten sind integraler Bestandteil einer Menschenk<strong>und</strong>e, die den Menschen<br />
als leibliches, seelisches <strong>und</strong> geistiges Wesen beobachtet <strong>und</strong> begreift. 11<br />
In bezug auf seine physische Körperlichkeit ist der Mensch ein Glied der ihn umgebenden<br />
Natur: Sein physischer Leib setzt sich zusammen aus denselben materiellen<br />
Elementen <strong>und</strong> den in ihnen wirksamen physischen Kräften, aus denen sich auch die<br />
Mineralien, Pflanzen <strong>und</strong> Tiere zusammensetzen. Fortpflanzung <strong>und</strong> Wachstum hat er<br />
mit Pflanze <strong>und</strong> Tier gemein. Ebenso wie diese verfügt er über eine spezifische Organisation<br />
artbildender Kräfte, die die Lebenserscheinungen hervorbringen <strong>und</strong> von Steiner als<br />
„Ätherleib“ bezeichnet werden. Die Fähigkeit, auf äußere Eindrücke mit inneren Erlebnissen<br />
zu reagieren, <strong>und</strong> die Möglichkeit der Eigenbewegung hat außer ihm nur das Tier.<br />
Wie dieses fühlt er Lust <strong>und</strong> Schmerz, Hunger <strong>und</strong> Durst usw. Doch verhält sich der<br />
Mensch nicht prinzipiell unfrei <strong>und</strong> instinktgeb<strong>und</strong>en, sondern kann die Dinge erkennen<br />
<strong>und</strong> einen vernunftgemäßen Zusammenhang in sein Leben bringen, indem er über die<br />
Wahrnehmungen <strong>und</strong> über seine eigenen Handlungen nachdenkt. Das Seelische des<br />
Menschen ist doppeldeterminiert durch die zwingenden Naturnotwendigkeiten <strong>und</strong> die frei<br />
anerkannten Denknotwendigkeiten. Diese freie Anerkennung der Denkgesetze ist nur<br />
möglich, weil im Menschen ein Wesensglied lebt, das er mit keinem der Wesen der anderen<br />
Naturreiche teilt: Das geistige Selbst, das im Ich aufleuchtet <strong>und</strong> durch das der<br />
Mensch nicht bloßes Gattungswesen, sondern unverwechselbare Individualität ist. Diese<br />
Individualität prägt mit zunehmender Herrschaft des Menschen über sich selbst dem Seelischen,<br />
ja sogar dem Physischen ihren Stempel auf. Ihr Wesen drückt sich dann in dem<br />
Gefühlsleben aus, mit dem die Eindrücke der Außenwelt beantwortet werden, <strong>und</strong> es ist<br />
ihr Wesen, das im Wollen auf die Außenwelt zurückwirkt.<br />
Durch die Tätigkeit des Ich wird das Psychische verwandelt <strong>und</strong> veredelt. Der Seelenleib<br />
(Astralleib) - das Wort Leib ist nur Metapher - wird von der Empfindungsseele durchsetzt,<br />
<strong>und</strong> diese „empfängt nicht bloß die Eindrücke der Außenwelt als Empfindungen; sie<br />
hat ihr eigenes Leben, das sich durch das Denken auf der einen Seite ebenso befruchtet<br />
wie durch die Empfindungen auf der anderen. So wird sie zur Verstandesseele [...] Sie<br />
kann das dadurch, daß sie sich nach oben hin den Intuitionen erschließt wie nach unten<br />
hin den Empfindungen. Dadurch ist sie Bewußtseinsseele.“ „Das ist ihr deshalb möglich,<br />
weil ihr die Geisteswelt das Intuitionsorgan hineinbildet, wie ihr der physische Leib die<br />
Sinnesorgane bildet [...] Der Geistmensch ist dadurch mit der Bewußtseinsseele in einer<br />
Einheit verb<strong>und</strong>en [...] In dieser Einheit lebt der Geistesmensch als Lebensgeist.“ 12<br />
64<br />
8<br />
GA 176, S. 194f.; GA 9, S. 53. Vgl. a. GA 176, S. 47.<br />
9<br />
GA 4, S. 148.<br />
10<br />
Schad, Aggression <strong>und</strong> Frieden, S. 30f.<br />
11<br />
Vgl. i. f. GA 9, S. 25ff.; GA 13, S. 42ff.<br />
12 GA 9, S. 45.