Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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Menschen ausgeschlossen [...] Nur der sittlich Unfreie [...] stößt den Nebenmenschen<br />
zurück, wenn er nicht dem gleichen Instinkt <strong>und</strong> dem gleichen Gebot folgt. Leben in der<br />
Liebe zum Handeln <strong>und</strong> Lebenlassen im Verständnis des fremden Wollens ist die<br />
Gr<strong>und</strong>maxime der freien Menschen.“ 36 Man kann den Menschen unserer Epoche nicht<br />
Gemeinschaftlichkeit durch äußere Mittel beibringen, die dann alsbald zu Zwangsmitteln<br />
werden.<br />
Kritische Theorie, die sozial bedingte Erkenntnisreduktionen aufdeckt, ist <strong>für</strong> eine solche<br />
Denkart allemal berechtigt. Eine solche Erkenntnisschranke ist etwa das aus der<br />
Klassenlage einer Minderheit sich ergebende Interessen an der Rechtfertigung bestehender<br />
inhumaner gesellschaftlicher Verhältnisse. Aber die Beseitigung von Schranken<br />
allein schafft noch keinen positiven Erkenntnisinhalt - dieser erwächst aus Willen zur Erkenntnis,<br />
nicht bloß aus einer alternativen ‚fortschrittlichen‘ Interessenlage. Die Berufung<br />
auf die Praxis darf nicht zum Legitimationsritual verkommen: die Ergebnisse der Praxis<br />
sprechen nicht <strong>für</strong> sich selbst, ,beweisen‘ nichts automatisch, sondern bedürfen der Deutung,<br />
über die freie Diskussion möglich sein muß. Wo dies nicht der Fall ist, gerät die<br />
Freiheit des Geistes- <strong>und</strong> Erkenntnislebens in Gefahr: damit aber droht <strong>soziale</strong>r Rückschritt,<br />
auch wenn die Infragestellung der Erkenntnisfreiheit mit dem ‚<strong>soziale</strong>n Fortschritt‘<br />
<strong>und</strong> seinen Notwendigkeiten begründet wird.<br />
Die Darstellung des anthroposophischen Erkenntnisbegriffs bliebe an entscheidender<br />
Stelle unvollständig, wenn sie nicht das einbezöge, was Steiner die Erkenntnis höherer<br />
Welten nennt: Indem der Erkenntnis Suchende lernt, mit dem Geist zu kommunizieren,<br />
der die sichtbare Welt durchprägt, kann er sich schließlich fähig machen, sich <strong>für</strong> geistige<br />
Wesenhaftigkeit auch da zu öffnen, wo sie sich im Physischen nicht unmittelbar manifestiert.<br />
Der Schritt ins „Okkulte“ ist <strong>für</strong> viele bis heute das entscheidende Ärgernis, das sie<br />
an Steiner nehmen. Mit dem Hinweis auf Steiners Okkultismus versucht man bis heute,<br />
seinen Erkenntnismethoden <strong>und</strong> Forschungsergebnissen die Wissenschaftlichkeit abzusprechen.<br />
Als Kriterien der Unterscheidung von Wissenschaft <strong>und</strong> Pseudowissenschaft<br />
können genannt werden: Logische Stimmigkeit (d.h. Freiheit von absurden Widersprüchen),<br />
Vereinbarkeit der jeweiligen Aussagen mit den vorliegenden empirischen Bef<strong>und</strong>en,<br />
empirischer Gehalt, kritische Reflexion der Begriffsbildung <strong>und</strong> der angewandten<br />
Methoden, das Streben nach Objektivität <strong>und</strong> einer gewissen Systematik, die allerdings<br />
offen sein muß, keinen dogmatisch abgeschlossenen Charakter haben darf. Ihrem eigenen<br />
Selbstverständnis nach hat Steiners „Geisteswissenschaft“, mit der er sich in eine<br />
übersinnliche Welt von Wesenheiten <strong>und</strong> Kräften wagt, die <strong>für</strong> das gewöhnliche Bewußtsein<br />
nicht existent sind, diese Kriterien nicht zu scheuen. Die Grenzüberschreitung soll<br />
methodisch kontrolliert erfolgen, so daß man davor gefeit ist, in ein bloß subjektives illusorisches<br />
<strong>und</strong> halluzinatorisches Erleben zu geraten.<br />
Die Kontrollmöglichkeit liegt darin, daß vom Denken ausgegangen wird. Das ist<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich neu: alle frühere okkulte Schulung ging andere Wege, mußte sie gehen,<br />
Wege, die heute obsolet geworden sind. 37 Im reinen Denken liegt Steiner zufolge bereits<br />
der Keim der Hellsichtigkeit beschlossen. Denn „die Gedanken <strong>und</strong> Ideen entstehen genau<br />
durch denselben Prozeß, durch den die höchsten Kräfte entstehen. Und es ist ungeheuer<br />
wichtig, daß der Anfang der Hellsichtigkeit etwas ganz ganz Alltägliches eigentlich<br />
ist. Man muß nur die übersinnliche Natur der Begriffe <strong>und</strong> Ideen erfassen [...]“ Und im<br />
gleichen Atemzuge wird Kants Satz von der Aufklärung als dem Mut, sich der eigenen<br />
Vernunft ohne fremde Leitung zu bedienen, aufgegriffen <strong>und</strong> umgebildet: „Mensch, erkühne<br />
dich, deine Begriffe <strong>und</strong> Ideen als die Anfänge eines Hellsehertums anzusprechen.“<br />
38<br />
Gewöhnlich ist man geneigt, Hellsehen im Zusammenhang mit mediumistischen <strong>und</strong><br />
visionären Phänomenen zu sehen, mit einer herabgestimmten Bewußtseinsverfassung.<br />
Steiner hält dagegen, ihm gehe es nicht um Dämpfung, sondern um Steigerung des Bewußtseins.<br />
Während ihm sein Okkultismus bei den einen den Vorwurf des Irrationalismus<br />
eintrug, wird denn auch aus den Kreisen der „Guru-Industrie“ über ihn verbreitet, gerade<br />
sein Intellektualismus hindere ihn am wahren Eins-Werden mit All-Einen. 39 Sehr eindrucksvoll<br />
hat Steiner das Verhältnis von <strong>Anthroposophie</strong> <strong>und</strong> Philosophie selber auf dem<br />
4. Internationalen Philosophenkongreß 1911 in Bologna dargestellt: Nach längeren erkenntnistheoretischen<br />
Ausführungen, die darin gipfeln, daß Erkenntnis etwas Unabge-<br />
111<br />
36 ibd., S. 166.<br />
37 Vgl. etwa Bühler 1980, Schulte 1980. Garlgren 1984.<br />
38 In „Okkulte Gr<strong>und</strong>lagen der Bhagavadgita“, GA 146, nach Palmer 1976, s. 111f.<br />
39 So argumentiert z. B. der Sektenführer Bagwan Sre Raijnesh. zur „Guru-Industrie“ vgl. Rau 1972.