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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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Das materielle Experiment ist ein Spezialfall des Erkenntnisexperiments der Vereinigung<br />

von Idee <strong>und</strong> Wahrnehmung. Ein Versuch wird nach Gesichtspunkten aufgebaut,<br />

die man die Idee des Experiments nennen kann. Es wird eine Idee an die Erfahrung herangebracht,<br />

„gewissermaßen der Natur selber zur Prüfung vorgelegt [...] Das Resultat<br />

besteht im typischen Fall in einer einfachen Wahrnehmungstatsache, die ihre Bedeutung<br />

hat <strong>für</strong> die Idee des Experiments.“ 29 „Während uns ein Phänomen der Außenwelt unklar<br />

ist, weil wir nur das Bedingte (die Erscheinung), nicht die Bedingung kennen, ist uns das<br />

Phänomen, das der Versuch liefert, klar, denn wir haben die bedingenden Faktoren<br />

selbst zusammengestellt.“ 30<br />

„Nur wer in die Schule der experimentellen Urteilsbildung gegangen ist, ist einer wirklichkeitsverträglichen<br />

Phantasie bei der freien (nicht von der Wahrnehmung gestützten)<br />

Individualisierung der Begriffe, die er seinem Handeln zugr<strong>und</strong>elegt fähig“, schreibt Witzenmann.<br />

31 Gerade auf diese moralische Phantasie kommt es beim schöpferischen <strong>soziale</strong>n<br />

Handeln an, ohne das es keinen gesellschaftlichen Fortschritt gibt.<br />

Steiners Ansatz, was das Verhältnis von Erkenntnis <strong>und</strong> <strong>soziale</strong>r Bewegung angeht,<br />

läßt sich nicht umstandslos einem der gegensätzlichen Begriffe „Werturteilsfreiheit“ <strong>und</strong><br />

„Parteilichkeit“ subsumieren. „Nicht der ,Zuschauerstandpunkt‘, sondern sowohl die analytische<br />

Aufhellung wie auch Hilfe bei der Verwirklichung <strong>soziale</strong>r Gestaltungsaufgaben“<br />

ist der anthroposophischen Sozialwissenschaft eigen. 32<br />

Das Postulat einer ‚objektiv-wertfreien‘ Sozialwissenschaft ist <strong>für</strong> Steiner Ausdruck der<br />

Begrenztheit des an der Naturwissenschaft geschulten Denkens, das sich nur am Gängelband<br />

der äußeren sinnenfälligen, experimentell reproduzierbaren bzw. statistisch<br />

konstatierbaren Tatsachen bewegen will <strong>und</strong> sich damit letztlich zur Unfruchtbarkeit gegenüber<br />

der <strong>soziale</strong>n Wirklichkeit verurteilt. 33<br />

Ein Dezisionismus, der die Brücke vom Erkennen zum Handeln nicht finden kann <strong>und</strong><br />

deshalb nur die Willkür übrig läßt, war Steiners Sache nicht. Das Handeln soll auf objektiver<br />

Einsicht beruhen, die Wertentscheidung jedoch ganz in die subjektive Verantwortung<br />

des einzelnen gestellt sein. Eine allgemeine Ethik als normierende Wissenschaft erscheint<br />

Steiner als innere Unmöglichkeit, als Eingriff in die Freiheitssphäre des einzelnen.<br />

Darin unterscheidet er sich auch von dem von ihm geschätzten Max Scheler, mit dem er<br />

die Richtung gegen den ethischen Formalismus Kants gemein hat. Ethik darf Steiners<br />

„Philosophie der Freiheit“ zufolge nicht mehr sein als eine „Naturlehre der sittlichen Vorstellungen“,<br />

die es mit den „moralischen Phantasieerzeugnissen der freien menschlichen<br />

Individuen“ zu tun hat. 34 Mit der marxistischen Vorstellung einer aus Klasseninteressen<br />

begründbaren, kollektiv verbindlichen humanistischen Moral, wie sie der These von der<br />

Einheit von Objektivität <strong>und</strong> Parteilichkeit zugr<strong>und</strong>eliegt, gerät Steiner durch solchen „ethischen<br />

Individualismus“ in Konflikt: Für ihn kann wahre Gemeinschaftlichkeit nur aus<br />

dem selbstverantworteten Handeln der einzelnen hervorgehen. „Wie ist aber ein Zusammenleben<br />

der Menschen möglich, wenn jeder nur bestrebt ist, seine Individualität zur<br />

Geltung zu bringen? Damit ist ein Einwand des falsch verstandenen Moralismus gekennzeichnet.<br />

Dieser glaubt, eine Gemeinschaft von Menschen sei nur möglich, wenn sie alle<br />

vereinigt sind durch eine gemeinsam festgelegte sittliche Ordnung.“ 35<br />

Das, was man sich heute angewöhnt hat, als totalitär zu bezeichnen, besteht gerade<br />

in dieser Meinung, daß in der Gesellschaft von irgendwelchen dazu berufenen Instanzen<br />

gewisse kollektiv verbindliche Gr<strong>und</strong>wahrheiten bzw. ethische <strong>und</strong> ästhetische Maximen<br />

festgelegt werden müssen, die es dem Volk durch Bildung, „Agitation <strong>und</strong> Propaganda“<br />

usw. einzutrichtern gelte. Der Totalitäre mit seinem Mißtrauen gegen den einzelnen „versteht<br />

eben die Einigkeit der Ideenwelt nicht. Er begreift nicht, daß die Ideenwelt, die in mir<br />

tätig ist, keine andere ist, als die meiner Mitmenschen [...] Der Unterschied zwischen mir<br />

<strong>und</strong> meinem Mitmenschen liegt durchaus nicht darin, daß wir in zwei ganz verschiedenen<br />

Geisteswelten leben, sondern daß er aus der uns gemeinsamen Ideenwelt andere Intuitionen<br />

empfängt als ich. Er will seine Intuitionen ausleben, ich die meinigen. Wenn wir<br />

beide wirklich aus der Idee schöpfen <strong>und</strong> keinen äußeren (physischen oder geistigen)<br />

Antrieben folgen, so können wir uns nur in dem gleichen Streben, in denselben Intuitionen<br />

begegnen. Ein sittliches Mißverstehen, ein Aufeinanderprallen ist bei sittlich freien<br />

29<br />

C. Unger, 1, 1964, S. 19f.<br />

30<br />

GA 1, S. 132.<br />

31<br />

Witzenmann 1978, S. 43.<br />

32<br />

Leber 1978, S. 282.<br />

33<br />

Vgl. zu diesem Komplex bei Schweppenhäuser 1985.<br />

34<br />

GA 4, S. 242.<br />

35<br />

ibd., S. 165.<br />

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