Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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<strong>und</strong> Erbauung akzeptieren will, recht weit entfernt. Die Wissenschaftlichkeit seines Vorgehens<br />
liegt seiner eigenen Einschätzung nach darin, daß er die Bilderwelt der Religion<br />
<strong>für</strong> ein modernes Bewußtsein dechiffrierbar macht durch die wissenschaftliche Erforschung<br />
der geistigen Tatsachen, die sich in diesen Bildern aussprechen, in denen sie<br />
lange Zeit allein überhaupt vermittelbar waren. So erhält z.B. die Fegefeuer-Vorstellung<br />
wieder einen nachvollziehbaren Sinn durch die Schilderun eines „Kamaloka“ genannten<br />
Bewußtseinszustandes, den der Abgeschiedene auf seinem Weg zwischen den Inkarnationen<br />
durchzumachen hat. Es ist der verbleibende Durst nach Erlebnissen, die nur die<br />
physischen Organe gewähren können, die dem Verstorbenen fehlen - eine vorübergehende<br />
Entbehrung, die qualvoll sein kann, aber die einzige Möglichkeit der Weiterentwicklung<br />
darstellt. 32 Steiner verficht auch im Religiösen nicht einen platt-linearen Entwicklungsbegriff,<br />
<strong>für</strong> den die Entwicklung vom Ahnenkult über den Polytheismus zum Monotheismus<br />
schlicht als ein Fortschritt sich darstellen würde. 33 Es gibt <strong>für</strong> ihn einen Standpunkt,<br />
von dem aus Monotheismus <strong>und</strong> Polytheismus vereinbar erscheinen: auch das<br />
mittelalterliche Christentum fand nichts dabei, zugleich an den einen Gott <strong>und</strong> an die<br />
„himmlischen Heerscharen“ zu glauben. Die Gottheit, der alles durchwaltende <strong>und</strong> tragende<br />
Weltgr<strong>und</strong>, stellt sich dar als Trinität. Er offenbart sich im weiteren in einer Stufenfolge<br />
von relativ selbständigen Wesenheiten. Auf der letzten Stufe erscheint der Mensch:<br />
unvollkommener als die Hierarchien über ihm, aber der Schöpfermacht ebenbildlich in<br />
seiner Anlage zur Autonomie -er kann <strong>und</strong> soll sich zur künftigen Hierarchie der Freiheit<br />
<strong>und</strong> Liebe entwickeln.<br />
Ein wichtiger Prüfstein <strong>für</strong> die marxistische These von der durchweg sozialreaktionären<br />
Rolle der Religion, aber zugleich auch ein Kriterium <strong>für</strong> den historischgesellschaftlichen<br />
Gehalt von Steiners Religionsbetrachtung ist der Prozeß der Ausbreitung<br />
des Christentums. Steiner schildert ihn z.B. in seinen Kursen an der Berliner Arbeiterbildungsschule.<br />
34 Dabei geht er aus von den <strong>soziale</strong>n Konflikten im Imperium Romanum,<br />
von dessen alles Gemüthaft-Persönliche ertötenden Rechtsdogmatik <strong>und</strong> Beamtenmentalität.<br />
Die Verwaltungsgliederung der römisch-katholischen Kirche mit ihren Diözesen<br />
sei keine vom Christentum geschaffene Form, sondern sie sei entstanden „nach<br />
der Schablone des römisch-dogmatisierten Staates [...] In diesen Staat hinein [...] verpflanzte<br />
sich das Christentum vom Osten hinüber [...]“ Man muß dabei den Sittenverfall<br />
Roms, die Oberflächlichkeit des kulturellen Lebens, die grausigen Vergnügungen im Auge<br />
haben, den Gegensatz von äußerstem Luxus <strong>und</strong> unbeschreiblicher Armut <strong>und</strong> Elend.<br />
Man importierte die Kulte der Provinzen <strong>und</strong> versuchte sie in den römischen cäsaristischen<br />
Staatskult einzuschmelzen. Eine völlige Veräußerlichung des religiösen Lebens<br />
ergab sich. Dieser Veräußerlichung stellte sich, zunächst aus dem Judentum hervorgehend,<br />
dessen Religiösität noch einen tieferen Gehalt besaß, das Christentum entgegen:<br />
Da „sollte mit Verzicht auf jegliches Weltliche, bloß aus dem Innersten des Menschen<br />
heraus, des menschlichen Gemüts heraus, das Religiöse erneuert werden.“ „Tief veranlagte“,<br />
„gelehrteste Männer“, wie Klemens von Alexandrien <strong>und</strong> Origenes stellten sich in<br />
den Dienst der neuen Idee. In den urchristlichen Gemeinden praktizierte man Brüderlichkeit<br />
im wirtschaftlichen Leben, eine Art Gütergemeinschaft.<br />
In der Apostelgeschichte heißt es über diese Praxis: „Es war auch keiner unter ihnen,<br />
der Mangel hatte, [...] man gab einem jeglichen, was ihm not war [...]“ „Das war es, was<br />
man entgegensetzte dem römischen Staatsleben.“ Die frühen Christen erlebten den<br />
Christus-Impuls noch in seiner Realität als den eigentlich menschheitsverbindenden, den<br />
wahrhaft sozialistischen Impuls, den Impuls der Brüderlichkeit, des „Liebe-deinen-<br />
Nächsten-wie-dich-selbst“. Sie anerkannten noch im innersten Empfinden „in jedem Erdenmenschen“,<br />
auch im „Zöllner <strong>und</strong> Sünder“, „die Wahrheit des Wortes: ,Was du dem<br />
geringsten meiner Brüder tust, das hast du mir getan.‘„ 35 Durch die praktizierte Brüderlichkeit<br />
„schaltete sich das Christentum so schnell ein in die Herzen derer, die nichts zu<br />
hoffen hatten.“ Es gab kein festgestelltes Dogma, sondern das lebendige Wort, den freien<br />
Diskurs über die Wahrheit. Erst als die Verfolgungen aufhörten <strong>und</strong> das Christentum<br />
durch Konstantin zur Staatsreligion wurde, wurde das anders. Denn der Preis <strong>für</strong> die<br />
Anerkennung war, daß es seinen ganzen Einfluß den Machthabern zur Verfügung stellen,<br />
also tatsächlich jene Rolle übernehmen mußte, die der <strong>Marxismus</strong> der Religion überhaupt<br />
als die wesentliche zuschreibt. Die Kirche übernahm römische Verwaltungsprinzipien,<br />
<strong>und</strong> das Christentum wurde zur „staatstragenden“ Religion umgeformt.<br />
190<br />
32 Vgl. GA 9, S. 83ff.<br />
33 Vgl. GA 172, S. 202ff.<br />
34 GA 51, S. 82ff. Dort auch, soweit nichts anderes angegeben, die folgenden Zitate.<br />
35 GA 172, S. 20Sf.