Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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wir aber den Begriff in uns arbeiten lassen so haben wir etwas in uns, was nach außen<br />
weist“, objektiv ist -, „die Außenwelt umspannt. So können wir von Wesen, Erscheinung<br />
<strong>und</strong> Wirklichkeit zum ,Begriff‘ aufsteigen.“ 7<br />
Wenn man genauer verstehen will, welche Rolle die Figuren der „Negation“, des<br />
„Sprungs“ <strong>und</strong> des „Widerspruchs“ <strong>für</strong> Steiner spielen, hat man zunächst darauf zu sehen,<br />
wie er den Evolutionsbegriff durch die Begriffe der „Involution“ <strong>und</strong> der „Devolution“<br />
ergänzt. Für Steiner existiert nicht nur ein außerer Strom der Evolution, der alle Dinge<br />
<strong>und</strong> Wesen sich in eine unendliche ferne Zukunft hinein vorwärtsbewegen läßt, sondern<br />
zugleich ein Gegenstrom, der ständig in den ersten eingreift. Dieser Strom der „Involution“<br />
ist vergangenheitswärts gerichtet, in ihm senkt sich das Ewige ununterbrochen in die<br />
sichtbare Realität ein. „Es involviert sich“, schreibt dazu E. Schuré, „so der Geist, welcher<br />
im Keime die Zukunft enthält, in der Materie; die Materie, welche den Geist empfängt,<br />
evolviert nach der Zukunft hin. Während wir also blind einer unbekannten Zukunft entgegengehen,<br />
geht diese Zukunft bewußt uns entgegen [...] Dergestalt ist die doppelte Bewegung<br />
der Zeit, die Ausatmung <strong>und</strong> Einatmung der Weltseele, die von der Ewigkeit<br />
kommt <strong>und</strong> zur Ewigkeit zurückkehrt.“ 8 Die „Devolution“ ist der dem Werden gegenüberstehende<br />
Prozeß des Welkens, der Zurückbildung, der Auflösung <strong>und</strong> des Absterbens.<br />
Diese „Aufhebung“ des Gewordenen schafft der Involution <strong>und</strong> damit dem Einschlag des<br />
Neuen erst den Raum des Wirkens: Der Rückbildung der äußeren Erscheinung entspricht<br />
ein Mächtigerwerden des Wesenhaften. 9<br />
Wir beachten den vergangenheitswärts gerichteten Gegenstrom der „Involution“ gewöhnlich<br />
nicht, weil wir gewohnt sind, das Spätere als Wirkung des Früheren anzusehen,<br />
eine Denkart, die gegenüber der anorganischen, physischen Welt auch berechtigt ist.<br />
Wenn eine rollende Kugel beispielsweise eine zweite durch Anstoß in Bewegung setzt,<br />
dann ist deren Bewegung durch Masse, Richtung <strong>und</strong> Geschwindigkeit der ersten eindeutig<br />
vorherbestimmt. Dagegen kann man in der organischen Natur nicht mehr in dieser<br />
Weise davon sprechen, daß ein Späteres das Resultat einer früher stattgehabten äußeren<br />
Einwirkung sei. Der Same ist sowenig die „Ursache“ der Blüte, wie die Ricke die „Wirkung“<br />
des Rebkitzes ist. Die verschiedenen Entwicklungsstadien sind hier Momente eines<br />
sich selbst hervorbringenden, von innen heraus formenden Ganzen. Die aktuelle Gestalt<br />
eines Organismus hängt mit ihrer zukünftigen nicht weniger zusammen als mit ihrer früheren.<br />
Die gestaltbildenden Kräfte übergreifen die vergehenden Entwicklungsphasen <strong>und</strong><br />
erhalten sich ihnen gegenüber; in diesen Kräften ist immer der gesamte Entwicklungszyklus<br />
als Zeitorganismus anwesend. Insofern „widerspricht“ der Organismus den Gesetzen<br />
des Anorganischen <strong>und</strong> hebt sie zugleich in sich auf. Während sich bei der Pflanze die<br />
bildenden Kräfte ganz in der Ausbildung der äußeren Gestalt ausleben, setzt sich das<br />
Lebendige des Tieres noch einmal zur Körperlichkeit in Widerspruch <strong>und</strong> gebraucht sie<br />
als sein Werkzeug. Ein Zentrum bildet sich aus, ein innerer Erlebnisraum, dem die Organe<br />
des Tiers dienen. Aus diesem Zentrum heraus bewegt es sich <strong>und</strong> tritt zur Umwelt in<br />
eine seinen Trieben entsprechende Beziehung, während sich das Pflanzendasein in vollendetem<br />
Wachstum (Evolution) <strong>und</strong> erneuter Involution im Samen, der die äußere Erscheinung<br />
auf ein Minimum reduziert, erschöpft. 10<br />
Das Tier lebt in einer instinktiven Einheit mit seiner Umwelt. Diese Einheit wird in der<br />
menschlichen Existenzweise noch einmal negiert. Der Mensch ist als Sinneswesen so<br />
organisiert, daß ihm die Weltelemente in einer unverb<strong>und</strong>enen Form zufließen; er selbst<br />
muß als Erkennender <strong>und</strong> Handelnder Einheit <strong>und</strong> Zusammenhang in seine Welt bringen,<br />
muß sich seinen Weg zur Wirklichkeit erst bahnen. Dieser Wirklichkeitsaufbau geschieht<br />
vermittels des Denkens. Dieses muß die Negation der Wirklichkeit durch die menschliche<br />
Organisation in einer Negation der Negation wieder aufheben, das organische Eigenleben<br />
zurückdrängen <strong>und</strong> sich selbst an dessen Stelle setzen. Im Denken kann das „Gesetz<br />
der doppelten Strömung“ zur inneren Erfahrung werden: Der Denkinhalt ist überzeitlich,<br />
d.h. ein jeder Begriff drückt in seiner Allgemeinheit nicht nur die aktuell bestehenden,<br />
sondern auch die vergangenen <strong>und</strong> zukünftigen Ausprägungen der gemeinten Gattungshaftigkeit<br />
aus. Insofern in der Aktualisierung eines Begriffs der in der Zeit verlaufende<br />
Denkakt von dem Inhalt, auf den er zielt, rückbestimmt ist, hat er an dessen Überzeitlichkeit<br />
teil; das Denken ist in einen „durch sich selbst bestimmten“, d.h. keiner zwingenden<br />
äußeren Notwendigkeit unterstehenden <strong>und</strong> gleichwohl gesetzmäßigen „Zusammenhang<br />
88<br />
7 GA 108,S. 213f.<br />
8 Schuré, in Beiträge 1973, S. 7.<br />
9 Vgl. zum gesamten Komplex GA 107, S. 295ff.<br />
10 Vgl. GA 1, S. 48, 51, 66, 68.