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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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talten. Dieses Denken bleibt nicht im Raume stehen, dieses Denken ist durchaus ein<br />

solches, welches im Medium der Zeit so lebt, wie das andere Denken im Medium des<br />

Raumes.“ 23<br />

Steiner zeigt, wie sich erst vor einem solchen Hintergr<strong>und</strong> das alte Nominalismus-<br />

Realismus-Streitthema befriedigend behandeln läßt: Dem Nominalismus sind die Allgemeinbegriffe<br />

bloße Namen, weil niemand den Löwen an sich oder das Dreieck im allgemeinen<br />

vorführen kann, sondern nur spezielle Exemplare. Wie soll denn auch ein Dreieck<br />

gleichzeitig spitzwinklig, stumpfwinklig usw. sein? Zunächst erscheint es aussichtslos, ein<br />

allgemeines Dreieck hinzuzeichnen, „das alle Eigenschaften, alle Dreiecke enthält. Und<br />

weil es aussichtslos nicht nur erscheint, sondern <strong>für</strong> das gewöhnliche menschliche Denken<br />

auch ist, deshalb steht hier alle äußere Philosophie an einer Grenzscheide [...]“ 24 Nun<br />

denke man aber ein Dreieck, bei dem man „jeder einzelnen Seite“ erlaubt, „daß sie sich<br />

nach jeder Richtung, wie sie will, bewegt. Und zwar erlauben wir ihr, daß sie sich mit<br />

verschiedenen Schnelligkeiten bewege [...] Man muß sich vorstellen, daß die Seiten des<br />

Dreiecks fortwährend in Bewegung sind. Wenn sie in Bewegung sind, dann kann ein<br />

rechtwinkliges oder ein stumpfwinkliges oder ein spitzwinkliges Dreieck oder jedes andere<br />

gleichzeitig aus der Form der Bewegungen hervorgehen [...] Der allgemeine Gedanke<br />

Dreieck ist das, wenn man den Gedanken in fortwährender Bewegung hat, wenn er versatil<br />

ist.“ Der unbewegliche Gedanke ist in der Tat nicht die in der Wirklichkeit selbst wirkende<br />

Einheit in der Vielfalt, ihm gegenüber hat der Nominalismus Recht. Bloß abstrakte<br />

Begriffe sind nicht mehr als bloße Namen, denn Abstrahieren heißt eben, etwas aus seinem<br />

wirklichen, lebendigen Zusammenhang herauszulösen <strong>und</strong> <strong>für</strong> sich zu betrachten.<br />

„Gefordert wird von uns, wenn wir von dem speziellen Gedanken aufsteigen sollen, daß<br />

wir den speziellen Gedanken in Bewegung bringen, so daß der bewegte Gedanke der<br />

allgemeine Gedanke ist, der von einer Form in die andere hineinschlüpft. Form, sage ich;<br />

richtig gedacht ist: Das ganze bewegt sich <strong>und</strong> jedes einzelne, was da herauskommt<br />

durch die Bewegung ist eine in sich geschlossene Form.“<br />

Mit Goethes Begriffen Urpflanze <strong>und</strong> Urtier kommt man „nur zurecht, wenn man sie<br />

beweglich denkt. Wenn man diese Beweglichkeit aufnimmt, von der Goethe selbst<br />

spricht, dann hat man nicht einen abgeschlossenen, in seinen Formen begrenzten Begriff,<br />

sondern man hat das, was in seinen Formen lebt, was durchkriecht in der ganzen<br />

Entwicklung des Tierreichs oder des Pflanzenreichs, wie das Dreieck sich in ein spitzwinkliges<br />

oder ein stumpfwinkliges verändert, <strong>und</strong> was bald ,Wolf‘ <strong>und</strong> ,Löwe‘, bald<br />

,Käfer‘ sein kann, je nachdem die Beweglichkeit so eingerichtet ist, daß die Eigenschaften<br />

sich abändern im Durchgehen durch die Einzelheiten.“ 25 Es handelt sich hier nicht um<br />

ein spekulatives Deduzieren der einzelnen profanen Pflanzen aus dem abstrakten Begriff<br />

Pflanze, wie es Marx <strong>und</strong> Engels in der Passage „Zur Kritik der spekulativen Konstruktion“<br />

in der „Heiligen Familie“ zum Gegenstand der Kritik machen. 26<br />

Für die offenbare Welt braucht man nur Erinnerungsvorstellungen <strong>für</strong> dasjenige, was<br />

man in fester Form irgendwo gesehen hat, um sich zu orientieren. Aber dieses Denken in<br />

geprägten Vorstellungen bleibt an der Oberfläche der Dinge <strong>und</strong> verläuft in weitem Maße<br />

bloß in Worten. Ein Denken, das tiefer dringt, stellt sich nicht von selbst ein, sondern will<br />

errungen <strong>und</strong> erübt sein. G. Kühlewind beschreibt die Technik solchen Übens, bei dem<br />

man sich auf eine reine Idee konzentriert, die keine Erinnerungsmomente <strong>und</strong> Momente<br />

der Einzelwahrnehmung enthält, „sondern das ,Gemeinsame‘ ist, woran <strong>und</strong> wodurch wir<br />

erkennen, daß alle entsprechenden individuellen Wahrnehmungsobjekte zu diesem Begriff<br />

gehören.“ 27 So kann man bei der Konzentration auf das Thema „Trinkglas“ viele mögliche<br />

Ausführungen ersinnen, um deren Gemeinsames erfassen zu lernen. Dieses wird<br />

nun Thema der Konzentration. Das Thema wird zunächst noch in Worten gedacht, aber<br />

als Idee ist es kein ,Wörtliches‘ mehr. Eher ist es „Bild, aber keins, das einer sinnlichen<br />

Wahrnehmung ähnlich wäre. Idee <strong>und</strong> Bild sind auf dieser Stufe eins, wie sie ursprünglich<br />

eins waren, nämlich beim ersten Hervorbringen, beim Schaffen eines Glases. Als Intuition<br />

waren Begriff <strong>und</strong> Bild, Idee <strong>und</strong> Vorstellung ungeschieden.“ Der Begriff Urbild meint<br />

diese ursprüngliche Einheit. Die - urbildhafte - Idee ist das Allgemeine in den Erscheinungen,<br />

das Muster, nach dem die Sinnes-Dinge gebildet sind, welches aber selbst nicht<br />

sinnlich erscheint, im Einzelnen <strong>und</strong> Besonderen immer nur in einer seiner Schattierungen,<br />

Ausprägungen, Momente usw. existiert.<br />

91<br />

23<br />

GA 79, Vortr. vom 26. 11. 1921.<br />

24<br />

GA 151, S. 14. S. 14ff. auch die folgenden Zitate.<br />

25<br />

ibd., S. 18.<br />

26<br />

Vgl. MEW 2, S. 59ff. <strong>und</strong> S. 114 in diesem Buch.<br />

27<br />

Die Zitate in diesem Absatz bei Kühlewind 1980, S. 41ff.

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