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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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kulation, diese Forderung stand an der Wiege der modernen Naturwissenschaft. Nur das<br />

Denken, durch das man die Beobachtungsergebnisse interpretierte, wurde von der Beobachtung<br />

ausgenommen. Steiner tut nun nichts anderes als das Erfahrungskriterium<br />

auszuweiten auf jene Bereiche, in denen die Naturwissenschaft es nicht anwendet. Der<br />

Denk- <strong>und</strong> Erkenntnisvorgang, der gewöhnlich der Aufmerksamkeit entschlüpft, weil die<br />

Aufmerksamkeit allein auf Gegenstände sich richtet, die es zu erkennen gilt, sollen in<br />

kontrollierter Weise bewußt gemacht werden.<br />

Wo diese Bewußtmachung unterbleibt, kann Wissenschaftlichkeit nicht gesichert werden.<br />

Was anders als unwissenschaftlich sind Aussagen über das Denken, etwa die, es<br />

sei eine Hirnfunktion, die nicht einer Kontrolle durch die denkende Beobachtung des<br />

Denkens unterzogen werden? Der Zusammenhang von Gehirn <strong>und</strong> Denken kann nur<br />

durch die denkende Verbindung von Beobachtungen am Denken <strong>und</strong> Beobachtungen am<br />

Gehirn aufgef<strong>und</strong>en werden. Alles andere ist unlogisch.<br />

Die Beobachtung des Denkens ergibt nun aber, daß da, wo konzentriert gedacht wird<br />

<strong>und</strong> nicht etwa nur vage Einfälle aneinandergereiht werden, der Mensch mit dem Gehirn,<br />

nicht jedoch das Gehirn mit dem Menschen denkt. Das Ich, das sich in der Beobachtung<br />

des Denkens selbst in seinem Denktätigsein wahrzunehmen beginnt, macht eine Autonomieerfahrung,<br />

die es einfach absurd erscheinen läßt, dieses Ich aus Prozessen materieller<br />

Substanz ableiten zu wollen. So ist <strong>für</strong> Steiner das Materialismus-Problem keine<br />

Frage von Theorien über das Bewußtsein, sondern eine praktische. Marx hatte gesagt:<br />

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie<br />

zu verändern.“ 36 Diesen Satz wendet Steiner implizit zugleich auf das Bewußtsein an: Es<br />

kommt nicht darauf an, wie man es - materialistisch oder idealistisch - interpretiert. Es<br />

kommt darauf an, es zu verändern <strong>und</strong> dadurch zu geistigen Erfahrungen durchzustoßen,<br />

zu jener geistigen Wirklichkeit, die ebenso konkret ist wie die physische, um es mit den<br />

Worten des jungen Marx zu sagen.<br />

Steiner knüpft an Hegel an, in dessen dialektischer Logik das begriffliche Denken ein<br />

Optimum an Beweglichkeit erreicht hat, in der die Begriffe fließend <strong>und</strong> ineinander übergehend<br />

gebildet sind. Aber anders als Hegel bleibt er nicht in der begrifflichen Sphäre<br />

stehen, sondern sucht durch diese hindurch ein Geistig-Lebendiges, von dem die Ideen<br />

nur der Schatten sind.<br />

Exkurs: Dialektischer Materialismus, absoluter Phänomenalismus<br />

<strong>und</strong> phänomenologische Erkenntniswissenschaft<br />

Um die Spezifik von Rudolf Steiners Wissenschaftsansatz deutlich herauszuarbeiten,<br />

werden wir ihn hier einmal mit der dialektisch-materialistischen Widerspiegelungstheorie<br />

der Erkenntnis vergleichen, wie sie im heutigen <strong>Marxismus</strong>-Leninismus zu finden ist, der<br />

sich dabei auf die erkenntnistheoretische Ausgestaltung des Marxschen Materialismus<br />

durch Friedrich Engels <strong>und</strong> die darauf aufbauenden Gedanken von W. I. Lenin beruft.<br />

Zugleich werden wir Steiners Ansatz mit dem Neoempirismus von Ernst Mach, Richard<br />

Avenarius <strong>und</strong> Alexander A. Bogdanow konfrontieren, jenen Denkern, von denen sich<br />

Lenin zu seiner berühmten Verteidigung der Widerspiegelungstheorie provoziert fühlte. 37<br />

Die Widerspiegelungstheorie der Erkenntnis faßt diese als ein untergeordnetes Moment<br />

der praktisch-gegenständlichen Subjekt-Objekt-Dialektik auf. Voraussetzungslosigkeit<br />

in der Erkenntnistheorie erscheint ihr als eine Unmöglichkeit, als Verschleierung des<br />

gesellschaftlichen Charakters des Erkenntnisprozesses. Das Objekt wird dem Subjekt<br />

letztlich nur als Gegenstand der Tätigkeit gegeben, aber dieses Objekt, die Materie, hat<br />

„der Mensch nicht geschaffen. Er schafft jede produktive Fähigkeit der Materie nur unter<br />

36 Karl Marx, Die Frühschriften, a.a.O., S. 341.<br />

37 „Materialismus <strong>und</strong> Empiriokritizismus“, Lenin-Werke (LW) Band 14, Berlin/DDR 1968. Eine Darstellung<br />

der Entstehungsgeschichte dieses 1909 veröffentlichten Werks <strong>und</strong> seiner Wirkung findet sich bei Kolakowski,<br />

Band II, an den ich mich in der Darstellung der empiriomonistischen Philosophie weitgehend anlehne, wenn ich<br />

auch seiner These, Lenins Schrift sei philosophisch weitgehend gehaltlos, nicht folgen kann: Rüde Polemik <strong>und</strong><br />

der sinnlose Fideismus-Vorwurf gegenüber dem theoretischen Gegner können nicht über das in bezug auf das<br />

Materialismus-Problem höchst entwickelte Problem-Bewußtsein hinwegtäuschen. Es ist im vorliegenden Zusammenhang<br />

interessant, daß Rudolf Steiner wiederholt Avenarius als Vater der Staatsphilosophie des Bolschewismus<br />

apostrophiert hat (siehe GA 186; GA 328, Die <strong>soziale</strong> Frage, Dornach 1977, S. 130 <strong>und</strong> Anm. des<br />

Herausgebers auf S. 195 dazu). Der Irrtum geht, worauf als erster O. B. Hansen aufmerksam gemacht hat,<br />

offenbar auf die Lektüre eines älteren Artikels von N. Berdjajew zurück, der über den wachsenden Einfluß des<br />

Empiriomonismus in der bolschewistischen Partei berichtete. Man muß auch bedenken, daß die Kodifizierung<br />

des Leninschen Werks erst später - in der Stalin-Ära - erfolgte. (Vgl. auch „Das Goetheanum“, 51. Jg., Nr. 2,<br />

Dornach 1972, S. 10ff.) Daß Steiner in der Sache - der Bewertung der Denkart des Empiriomonismus - durchaus<br />

nicht neben der Wahrheit lag, dürfte aus den folgenden Ausführungen hervorgehen.<br />

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