Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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onsinstrument im Interesse der Profit- <strong>und</strong> Machtsicherung des an Rüstung <strong>und</strong> Krieg<br />
nach wie vor interessierten Monopolkapitals bzw. der aggressivsten Kreise desselben.<br />
Ideologische Koexistenz darf es der Doktrin nach nicht geben: im Gegenteil, unter den<br />
Bedingungen der Entspannung nehmen die „ideologischen Diversionsversuche“ des<br />
„Klassengegners“ an Bedeutung zu, umso wachsamer glaubt man alles bekämpfen zu<br />
müssen, was als „bürgerliche Ideologie“ gilt. Daß die eigene Weltmachtrolle auch eine<br />
gegenüber dem ursprünglichen friedenspolitischen Ansatz des Sozialismus sich verselbständigende<br />
Logik hat, wird nach wie vor meist verdrängt. Sicher ist die Ausrichtung der<br />
Außenpolitik am Konzept der friedlichen Koexistenz ehrlich gemeint. Aber zugleich ist die<br />
Politik durch Mißtrauen <strong>und</strong> rigoroses, oft übers Ziel hinausschießendes Sicherheitsdenken<br />
geprägt <strong>und</strong> durch geopolitische Aspekte <strong>und</strong> globalstrategische Überlegungen, wie<br />
man die andere Seite vor Interventionen in den revolutionären Prozeß abschrecken kann,<br />
mitgeformt. Sie schließt daher Aktionen wie Afghanistan nicht aus: die Revolution darf der<br />
Doktrin nach nicht exportiert werden, aber dort, wo sie „gesiegt“ hat, darf ihr gegen jegliche<br />
„Konterrevolution“ auch militärisch beigestanden werden, -auch wenn die hilferufenden<br />
Revolutionäre nur äußerst spärlich demokratisch legitimiert sind. Denn die internationale<br />
Politik gilt allemal als Feld des internationalen Klassenkampfs, der auch um die Friedensfragen<br />
geführt wird; einem klassenindifferenten Pazifismus gibt man keine Entfaltungsmöglichkeiten<br />
im eigenen Machtbereich.<br />
Die Kritik am <strong>Marxismus</strong> hat häufig damit operiert, daß die von Marx beschriebenen<br />
gesellschaftlichen Verhältnisse der Vergangenheit angehörten <strong>und</strong> damit auch sein Klassenkampf-<br />
<strong>und</strong> Revolutionskonzept hinfällig sei. Marx schweben bei seinem Klassenbegriff<br />
der gewaltsam in Ketten gehaltene Sklave, der durch nackte ökonomische Not zum<br />
Verkauf seiner Arbeitskraft um fast jeden Preis gezwungene Proletarier vor. In der Tat ist<br />
im Vergleich damit die Lage zumindest weiter Teile der Lohn- <strong>und</strong> Gehaltsabhängigen im<br />
Westen erheblich besser. Die Aufstiegschancen, also die Durchlässigkeit des <strong>soziale</strong>n<br />
Gefüges <strong>und</strong> die <strong>soziale</strong> Mobilität sind größer geworden, wenn auch von völliger Chancengleichheit<br />
noch nicht gesprochen werden kann. Die Realität der westlichen Gesellschaften<br />
ist weder ein jenseits des Kapitalismus angesiedelter „demokratischer Interventionismus“<br />
(Popper) noch die durch „permanente Verschärfung der Widersprüche zwischen<br />
einer winzigen Schicht von Monopolherren <strong>und</strong> den breiten Volksmassen“ gekennzeichnete<br />
Gesellschaftsordnung, als die sie im Osten gesehen wird. So schief die These<br />
westlicher Soziologen vom „Verschwinden der Arbeiterklasse“ ist, so sehr hat auf der<br />
anderen Seite heute <strong>für</strong> den Westen Gültigkeit, was Stalin einst <strong>für</strong> den Osten erklärte:<br />
die Arbeiterklasse ist kein Proletariat mehr. 21<br />
Die marxistisch-leninistische Klassentheorie macht es sich mit den sozialstrukturellen<br />
Veränderungen im Westen zu einfach, wenn sie sie umstandslos als Bestätigung der<br />
eigenen Theorie interpretiert. Es ist zwar richtig, daß die Zahl der Lohn- <strong>und</strong> Gehaltsabhängigen<br />
gegenüber den Selbständigen (die noch nicht einmal alle „Produktionsmittelbesitzer“<br />
sind) enorm gestiegen ist, womit die gesellschaftliche Realität mehr jenem von den<br />
Nebenklassen abstrahierenden Modell des Marxschen „Kapital“ entspricht als die Gesellschaft<br />
zu Marx‘ Zeiten. Doch diese „Vereinfachung“ der Klassenstruktur 22 ist eben nicht<br />
einfach im Sinne der Polarisierung: Akkumulation von Reichtum auf der einen, Akkumulation<br />
von massenhaftem Elend auf der anderen Seite, verlaufen. So richtig es ist, daß sich<br />
die Lage großer Teile der ehemals nichtproletarischen Schichten der Lage der Arbeiterklasse<br />
angenähert hat, so richtig ist es ebenfalls, daß sich die Lage der Arbeiterklasse -<br />
hinsichtlich Lebensstandard, Vermögensbildung <strong>und</strong> verschiedener anderer <strong>für</strong> die empirische<br />
Existenz höchst wichtiger Parameter - der der ehemals nichtproletarischen Schichten<br />
angenähert hat. Die <strong>soziale</strong> Sicherheit eines Arbeiters ist heute eher höher als die<br />
eines Kleingewerbetreibenden, sagen wir der Weimarer Republik. Insoweit ist es müßig,<br />
darüber zu streiten, ob wir es mit wachsender Proletarisierung oder dem Trend zur Mittelstandsgesellschaft<br />
zu tun haben, -an beidem ist offenbar ein Körnchen Wahrheit. Man<br />
muß auch berücksichtigen, daß es unter den nichtselbständigen Schichten große Teile<br />
relativ Privilegierter <strong>und</strong> Begüterter gibt, deren Lebenslage durchaus besser sein kann als<br />
die von Teilen der kleinen Bourgeoisie.<br />
Die Rede von einer „neuen <strong>soziale</strong>n Frage“ ist kein bloßes Ablenkungsmanöver vom<br />
„kapitalistischen Gr<strong>und</strong>widerspruch“. Es ist in der Tat das Gr<strong>und</strong>problem einer Gesellschaft,<br />
in der Kampf aller gegen alle um den höchsten Anteil am „Sozialprodukt“ oberstes<br />
Gesetz zu werden droht oder schon ist, daß relativer Reichtum bei relativ breiten Schich-<br />
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21 Stalin, Fragen des Leninismus, S. 693 f.<br />
22 Vgl. MEW 4, S. 463.