06.01.2013 Aufrufe

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

seine Sinne <strong>und</strong> sein Denken machte, etwa das, was wir mit dem unmittelbar gegebenen<br />

Weltbilde bezeichnen.“ 4<br />

Mit zwei Einwänden gegen diesen Einstieg in die Erkenntnistheorie setzt sich Steiner<br />

auseinander: Erstens, daß „unmittelbar Gegebenes“, „Weltbild“, „zusammenhanglos“<br />

usw. auch schon Begriffe sind, so daß es scheinen kann, als werde mit ihnen doch bereits<br />

eine Erkenntnis vorausgesetzt. Zweitens, daß dem Menschen das Unmittelbar-<br />

Gegebene normalerweise so nie im Leben vorliegt. Gegenüber dem ersten Einwand<br />

weist Steiner darauf hin, daß die monierten Begriffe am Anfang der Erkenntnistheorie<br />

nicht in einem inhaltlich charakterisierenden Sinne, sondern nur in blicklenkender Absicht<br />

verwandt werden. Jeder, der Erkenntnistheorie betreibt, hat schon gewisse Erkenntnisse.<br />

Um den Weg zum Anfang der Erkenntnis zu finden, muß aus diesen alles entfernt werden,<br />

was ein Produkt der Erkenntnis ist. Und das kann nur durch begriffliche Erwägungen<br />

geschehen, diese gehören aber nicht selbst dem Anfang an, sondern dienen dazu, die<br />

Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Sie sind <strong>für</strong> Steiner also gewissermaßen Krücken, die<br />

man wegwirft, wenn man am Ziel ist: der begrifflosen Vergegenwärtigung des Unmittelbar-Gegebenen.<br />

Es handelt sich bei den notwendigen begrifflichen Erwägungen auch<br />

nicht um Wahrheit oder Unwahrheit, sondern nur um ihre Zweckmäßigkeit in bezug auf<br />

die Hinlenkung zum Anfang. Irrtum oder Wahrheit liegen bereits innerhalb des Erkenntnisprozesses.<br />

Den zweiten Einwand pariert Steiner mit dem Argument, daß die Grenze<br />

zwischen Gegebenem <strong>und</strong> Erkanntem gar nicht anders als künstlich gezogen werden<br />

kann, dies aber auf jeder Entwicklungsstufe des Menschen bei richtiger Schnittführung<br />

zwischen dem möglich ist, „was ohne gedankliche Bestimmung vor dem Erkennen an uns<br />

herantritt, <strong>und</strong> dem, was durch letzteres daraus erst gemacht wird.“ 5<br />

4 GA 3, S. 137.<br />

5 GA 3, 138 f., vgl. 137, 140.<br />

H.J. Scheurle 1984 scheint die Unterscheidung von blicklenkender <strong>und</strong> charakterisierender Begriffsverwendung<br />

bei Steiner zu ignorieren (Vgl. S.52f.). Scheurles Untersuchung der „Gesamtsinnesorganisation“ ist ein<br />

bedeutender Beitrag zur Gr<strong>und</strong>legung einer phänomenologischen Sinneslehre <strong>und</strong> erweckt Sympathie durch<br />

ihre <strong>und</strong>ogmatische Attitüde. In erkenntnistheoretischer Hinsicht bleibt sie aber letztlich unbefriedigend. Scheurle<br />

fragt, worin „überhaupt irgend ein greifbarer Unterschied zwischen Wahrnehmung <strong>und</strong> Denken“ bestehen soll<br />

(S. 18), da wir doch im Denken Ideen <strong>und</strong> Wortbedeutungen wahrnehmen, im Hören <strong>und</strong> Sehen Farben <strong>und</strong><br />

Töne <strong>und</strong> in beiden Fällen keine passive Rezeption vorliegt, sondern eine intentionale Beziehung. Doch besteht<br />

nicht ein entscheidender Unterschied darin, daß bei der Begriffswahrnehmung die gerichtete Aufmerksamkeit<br />

des Ich einem Gebilde seiner eigenen denkenden Tätigkeit gilt, während es bei sonstigen Wahrnehmungen mit<br />

einem gegebenen Inhalt zu tun hat, den es nicht hervorbringt?<br />

Und wie soll die Klippe des subjektiven Idealismus <strong>und</strong> Phänomenalismus umschifft werden, wenn die Nichtigkeit<br />

einer nicht etwa von der Wahrnehmbarkeit, sondern von der Wahrnehmung, also dem aktuellen Wahrgenommenwerden,<br />

unabhängigen Objektwelt postuliert wird? (S. 28)<br />

Es ist Scheurles Verdienst, auf die Problematik des Verhältnisses zwischen Steiners Sinneslehre, die er im<br />

wesentlichen akzeptiert, <strong>und</strong> Steiners Erkenntnistheorie hingewiesen zu haben, die er als noch dualistisch<br />

ablehnt. Es zeichnet sich ab, daß dieses Problem in der künftigen anthroposophischen Forschung noch eine<br />

große Rolle spielen wird. Die erkenntnistheoretische Spaltung von Wahrnehmung <strong>und</strong> Begriff stellt nach<br />

Scheurle ein Analogon der von ihm zu Recht kritisierten Subjekt-Objekt-Antinomie dar. Deren Zustandekommen<br />

führt er auf die statische Auffassung ihrem Wesen nach dynamischer Begriffe zurück. Uns scheint jedoch, daß<br />

Steiner Wahrnehmung <strong>und</strong> Begriff bzw. Intuition <strong>und</strong> Beobachtung durchaus nicht als starres Gegenüber, sondern<br />

als dynamische Polarität begreift, was den Dualismus-Vorwurf gegenstandslos machen würde. Das Denken<br />

ist <strong>für</strong> Steiner nicht eine separate, über der Sinnlichkeit thronende Sphäre, sondern die Funktion, die die<br />

dumpferen Sinnesreize zur vollen Klarheit aufhellt, indem sie den in ihnen enthaltenen, dem Subjekt aber vor<br />

der Erkenntnis unzugänglichen Geistgehalt in die Unverborgenheit hinaufhebt.<br />

Faßt man das Verhältnis von Sinneswahrnehmung <strong>und</strong> Denken dynamisch, wird man in bezug auf die Diagnose<br />

eines Widerspruchs zwischen Steinerscher Sinneslehre <strong>und</strong> Steinerscher Erkenntnistheorie zurückhaltender<br />

sein als Scheurle. Steiner lehnt in dem <strong>Anthroposophie</strong>-Fragment von 1910 (GA 45) die einfache Gegenübersetzung<br />

von Sinneswahrnehmung <strong>und</strong> begrifflichem Denken ab, weil sie „den notwendigen freien Ausblick<br />

auf die Tatsache verstellt, daß zum Beispiel die Geruchsempfindung sehr ferne dem Begriffserlebnis steht,<br />

daß aber der Gehörsinn als Sinneswahrnehmung sich schon dem annähert, was im Innern der Seele als solches<br />

Erlebnis vorhanden ist.“ (S. 40) Scheurle nimmt an, daß Steiner durch das Konstatieren eines Wortsinns<br />

<strong>und</strong> eines Gedankensinns das Denken der Sinneswahrnehmung subsumiert. Steiner will diese Sinne jedoch als<br />

einfaches, unmittelbares <strong>und</strong> urteilsfreies Verhältnis zu Wort bzw. Begriff charakterisiert wissen. Er beschreibt<br />

den Begriffssinn in dem Text von 1910 nicht etwa als Auffassungsvermögen <strong>für</strong> Begriffe schlechthin, sondern<br />

als das Verständnis <strong>für</strong> die Begriffe eines anderen, „der sich durch Lautsprache, Gestus usw. mitteilt“, <strong>und</strong> zwar<br />

nur insoweit, als in diesem Verständnis noch nicht Urteil, Gedächtnis usw. wirkt. (S. 37) Es handele sich um ein<br />

Verständnis <strong>für</strong> dasjenige, wo<strong>für</strong> „man es noch gar nicht zu einer Urteilsfähigkeit gebracht hat“ (ibd.).<br />

Der eigentliche Erkenntnisvorgang hat es dagegen immer mit der Urteilsbildung in Form von Wahrnehmungs-<br />

<strong>und</strong> Begriffsurteilen, d.h. mit der Tätigkeit des bewußten Hervorbringens von Verknüpfungen zu tun <strong>und</strong><br />

erfordert ein weit höheres Maß an Selbständigkeit als die charakterisierte unmittelbare Begriffsauffassung. Als<br />

deren Organ bezeichnet Steiner übrigens in dem angeführten Text die im vergangenen Leben eines Menschen<br />

bereits erworbenen Begriffe. (S. 75) Die Schwierigkeit scheint darin zu liegen, daß die Sinnesorganisation nicht<br />

einfach naturgegeben ist, sondern eine Entwicklung infolge der menschlichen Tätigkeit durchmacht <strong>und</strong> daß<br />

das Denken die Sinnesorganisation nicht nur ergänzt, sondern auch modifiziert. Das scheint auch der Gr<strong>und</strong><br />

da<strong>für</strong> zu sein, daß man die Grenze zwischen Gegebenem <strong>und</strong> Erkanntem zunächst künstlich ziehen muß, um<br />

sich klarzumachen, worin der eigentliche Erkenntnisvorgang besteht.<br />

103

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!