Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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wie man es <strong>für</strong> die körperlichen Merkmale tut.“ Aber das eigentlich Geistige im Menschen<br />
ist so nicht zu begreifen, die höheren Seeleneigenschaften sind nicht bloß graduell vom<br />
Tierseelischen verschieden. Daß die Gesetze der organischen Natur Steigerungen jener<br />
der unorganischen sind, wird heute kein Einsichtiger mehr im Sinne der Urzeugungsthese<br />
interpretieren, nach der Würmer aus Schlamm entstehen. Doch inkonsequenterweise<br />
wird gegenüber dem Geistig-Seelischen immer noch nach solcher Logik verfahren. Man<br />
begreift nicht, „daß <strong>für</strong> den einzelnen Menschen die Biographie dieselbe gr<strong>und</strong>wesentliche<br />
Bedeutung hat, wie <strong>für</strong> das Tier die Beschreibung der Art [...] Der einzelne Mensch ist<br />
mehr als ein Exemplar der Menschengattung. Er hat in demselben Sinne seine Gattungsmerkmale<br />
mit seinen physischen Vorfahren gemein wie das Tier. Aber wo das Gattungsmäßige<br />
aufhört, da beginnt <strong>für</strong> den Menschen das, was seine besondere Stellung,<br />
seine Aufgabe in der Welt bedingt. Und wo diese anfängt, da hört alle Möglichkeit der<br />
Erklärung nach der Schablone der tierisch-physischen Vererbung auf. Ich kann Schillers<br />
Nase <strong>und</strong> Haare, vielleicht auch gewisse Temperamentseigenschaften auf Entsprechendes<br />
bei seinen Vorfahren zurückführen, aber nicht sein Genie.“<br />
Die Höherentwicklung im Tierreich stellt man sich so vor, „daß eine Tierart aus einer<br />
ähnlichen hervorgeht, die nur um einen Grad tiefer steht als sie. Also muß Newtons Seele<br />
aus einer solchen hervorgegangen sein, die ihr ähnlich, nur um einen Grad tiefer steht als<br />
sie. Das Seelische in Newton umfaßt mir seine Biographie [...] Ich erkenne Newton aus<br />
seiner Biographie, wie ich einen Löwen aus der Beschreibung seiner Art erkenne. Und<br />
ich verstehe die Löwenart, wenn ich mir vorstelle, daß sie aus einer im Verhältnis zu ihr<br />
niedrigeren Art hervorgegangen ist. Also verstehe ich das, was ich in Newtons Biographie<br />
umfasse, wenn ich es mir entwickelt denke aus dem Biographischen einer Seele, die ihr<br />
ähnlich, als Seele mit ihr verwandt ist. Demnach war Newtons Seele in anderer Form<br />
bereits da, wie die Löwenart in anderer Form vorher da war. Für ein klares Denken gibt<br />
es kein Entrinnen aus dieser Anschauung [...] Durch sie ist aber das Wiedererscheinen<br />
der Wesenheit, die man in der Biographie umfaßt, gesichert.“<br />
„Man lasse entweder die ganze naturwissenschaftliche Entwicklungslehre fallen, oder<br />
man gebe zu, daß sie auf die seelische Entwicklung ausgedehnt werden müsse. Es gibt<br />
nur zweierlei: entweder ist jede Seele durch ein W<strong>und</strong>er geschaffen, wie die tierischen<br />
Arten durch W<strong>und</strong>er geschaffen sein müßten, wenn sie sich nicht auseinander entwickelt<br />
haben; oder die Seele hat sich entwickelt <strong>und</strong> ist anderer Form früher dagewesen, wie die<br />
tierische Art in anderer Form da war.“ Man muß den Mut zum W<strong>und</strong>erglauben haben,<br />
wenn man den anderen Mut nicht haben kann ,zur anthroposophischen Ansicht von dem<br />
Wiedererscheinen der Seele oder der Reinkarnation‘„ Die spätere Biographie ist in gewissem<br />
Maße die Wirkung der früheren, aus der sie erklärt werden muß. „Dies ist der<br />
Inhalt des Karma-Gesetzes, das besagt: alles, was ich in meinem gegenwärtigen Leben<br />
kann <strong>und</strong> tue, steht nicht abgesondert da als W<strong>und</strong>er, sondern hängt als Wirkung mit den<br />
früheren Daseinsformen meiner Seele zusammen, <strong>und</strong> als Ursache mit den späteren.“<br />
Das Kausalitätsverhältnis ist kein mechanisches: Im Zusammenhang der Kette der<br />
Biographien wirkt die Metamorphose, - Charakter, Fähigkeiten usw. sind in hohem Maße<br />
als Metamorphosen der Erlebnisse, Einstellungen <strong>und</strong> Erfahrungen vergangener Inkarnationen<br />
zu denken.<br />
Steiners Konzeption ist weit entfernt von einer fatalistischen Version des Karma, das<br />
als selbstgeschaffenes Schicksal gerade durch die freien Handlungen <strong>und</strong> Bemühungen<br />
des Menschen modifiziert <strong>und</strong> erleichtert werden kann. Das gilt auch gegenüber dem<br />
anderen Menschen, dem es zu helfen gilt, sein Schicksal zu bewältigen <strong>und</strong> durchzutragen.<br />
Karma vollzieht sich nicht nur, es entsteht auch permanent <strong>und</strong> wandelt sich, wobei<br />
auch der Zufall hierbei eine Rolle spielen kann. 44 Der Reinkarnationsgedanke bei Steiner<br />
hat nichts zu tun mit einer primitiven Rechtfertigung <strong>soziale</strong>r Ungleichheiten durch den<br />
Hinweis auf ihre Verursachung durch frühere Verfehlungen, nach dem Motto, die sozial<br />
Schwachen seien selber schuld. Er ist im Gegenteil ein Mahnruf zur Schaffung sozial<br />
gerechter Verhältnisse, die der Individualität die besten biographischen Entfaltungsmöglichkeiten<br />
bieten. Der Reinkarnationsgedanke macht den Menschen <strong>für</strong> das Schicksal der<br />
Erde mitverantwortlich: denn gemäß dieser Anschauung verläßt er die Erde nicht, um im<br />
Jenseits des jüngsten Tages zu harren, sondern um erneut auf ihr zu wirken. Er kann<br />
nicht sagen: Nach mir die Sintflut. 45 Die Individuen machen die Geschichte, indem sie<br />
durch die verschiedenen geschichtlichen Epochen hindurchgehen. Wo Marx von der<br />
Selbsterzeugung der Gattung durch Arbeit spricht, da begreift Steiner auch den einzelnen<br />
44<br />
Vgl. in GA 34 den Aufsatz „Gibt es einen Zufall?“ <strong>und</strong> GA 163.<br />
45<br />
Vgl. Verbrugh 1982.<br />
194