Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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Um das Allgemeine einer - durch die Produktionsweise bestimmten - Gesellschaftsordnung<br />
gegenüber den besonderen Umständen ihres Auftretens in diesem oder jenem<br />
Land hervorzuheben, entwickelt der <strong>Marxismus</strong> die Kategorie der ökonomischen Gesellschaftsformation.<br />
Die Gesellschaft ist ein „<strong>soziale</strong>r Organismus“, d.h. ein System von<br />
Erscheinungen <strong>und</strong> Verhältnissen, die „organisch miteinander verb<strong>und</strong>en sind <strong>und</strong> wechselseitig<br />
voneinander abhängen.“ 55 Als ökonomische Formation wird er bezeichnet, weil<br />
„die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Gr<strong>und</strong>lage bildet, aus<br />
der der gesamte Überbau der rechtlichen <strong>und</strong> politischen Einrichtungen sowie der religiösen,<br />
philosophischen <strong>und</strong> sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitalters<br />
in letzter Instanz zu erklären sind.“ 56 Diese ökonomische Struktur ist die Basis der<br />
Gesellschaft, zu deren Überbau drei Gruppen von Erscheinungen gehören: „erstens die<br />
gesellschaftlichen Ideen, Stimmungen, die <strong>soziale</strong>n Gefühle, das heißt die Ideologie <strong>und</strong><br />
die gesellschaftliche Psychologie; zweitens die verschiedenen Organisationen <strong>und</strong> <strong>Institut</strong>ionen:<br />
Staat, Gerichte, Kirchen usw.; <strong>und</strong> drittens die Überbauverhältnisse (ideologischen<br />
Verhältnisse)“ unter den Menschen. 57 Diese werden im Gegensatz zu den sich<br />
spontan <strong>und</strong> zwangsläufig bildenden materiellen Verhältnissen mehr oder weniger willentlich<br />
<strong>und</strong> bewußt eingegangen (man denke dabei an den Gegensatz etwa zwischen einem<br />
- aus Existenzgründen notwendigen - Arbeitsverhältnis <strong>und</strong> der freiwilligen Mitgliedschaft<br />
in einer politischen Partei). Der Begriff „materielle gesellschaftliche Verhältnisse“ wird<br />
freilich etwas weiter als der „Basis“begriff gefaßt, weil er z.B. auch „elementare Verhältnisse<br />
außerhalb der Produktion, z.B. in der Familie“ einschließt. 58 Auf der anderen Seite<br />
ist der Überbau nicht einfach ideell, denn er stützt sich auf Formen <strong>soziale</strong>r Kontrolle <strong>und</strong><br />
wendet materielle Mittel - Polizei, Armee, Gefängnisse - an. Der Überbau steht zur jeweiligen<br />
Basis im Verhältnis der Entsprechung, seine Widersprüche (Parteienkämpfe, Weltanschauungsstreitigkeiten,<br />
etc.) sind letztlich Ausdruck der Basiswidersprüche. Es kann,<br />
so wird gesagt, keine wahrhafte politische Demokratie geben, wo die privatkapitalistische<br />
ökonomische Macht weniger basisbestimmend ist.<br />
Eine interessante Frage bezüglich des Überbaus ist die folgende: Widerspricht die<br />
marxistisch-leninistische These von der Notwendigkeit der staatlichen Macht der Arbeiterklasse<br />
als Instrument des sozialistischen Aufbaus dem behaupteten Primat der Basis?<br />
Man könnte argumentieren, daß die Basis, also die sozialistische Wirtschaft, hier vom<br />
Staat, also vom Überbau, gelenkt <strong>und</strong> bestimmt werde. Dem wird aber entgegengehalten,<br />
erstens sei der neue Überbau Ausdruck der ökonomischen Notwendigkeit des Übergangs<br />
zum Sozialismus, zweitens sei die Herausbildung der sozialistischen Gesellschaft nicht<br />
ohne herangereifte materielle Voraussetzungen möglich, drittens sei der neue Überbau<br />
nicht Ursache des Sozialismus, sondern nur Mittel seiner Durchsetzung <strong>und</strong> viertens<br />
konsolidiere er sich erst endgültig, wenn sich die neue Produktionsform durchgesetzt<br />
habe, ergo sei dies kein Einwand.<br />
Der <strong>Marxismus</strong> faßt die Geschichte als den Prozeß der notwendigen Entstehung, der<br />
Entwicklung <strong>und</strong> des Untergangs der ökonomischen Gesellschaftsformen auf, in deren<br />
Aufeinanderfolge eine ganz bestimmte Gesetzmaßigkeit waltet: Von der klassenlosen,<br />
aber armen <strong>und</strong> primitiven Urgesellschaft führt der Weg der Menschheit über die „antagonistischen“<br />
Formationen (Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus) zur<br />
klassenlosen kommunistischen Gesellschaft, die sich auf höchstentwickelte Produktivkräfte<br />
stützen kann. In der Dialektik der Formationsentwicklung sieht man die Einheit <strong>und</strong><br />
Geschlossenheit des Geschichtsprozesses begründet, den man nicht im Sinne Spenglers<br />
<strong>und</strong> Toynbees in die „Geschichten“ einzelner Kulturkreise aufgelöst wissen will, wenn<br />
man auch deren relative Selbständigkeit nicht leugnet.<br />
Im einzelnen stellt sich dieses Geschichtsbild so dar: In der Gentilordnung der Urgesellschaft<br />
ergibt sich eine primitive Teilung der Arbeit nach Gesichtspunkten von Alter <strong>und</strong><br />
Geschlecht. Mit den beiden großen Arbeitsteilungen zwischen Jagd bzw. Sammeln <strong>und</strong><br />
Ackerbau <strong>und</strong> zwischen Ackerbau <strong>und</strong> Handwerk steigt die Arbeitsproduktivität. Mit einem<br />
Teil des damit entstehenden Überschusses über das zur Lebenserhaltung Notwendigste<br />
hinaus (Mehrprodukt) tauscht man bei anderen Stämmen Güter ein, die man selbst<br />
nicht oder nicht in genügendem Maße herstellen kann. Dieser primitive Warenaustausch<br />
an den Rändern der Gemeinwesen vertieft die Arbeitsteilung <strong>und</strong> hat längerfristig zur<br />
Folge, daß bestimmten Waren die Rolle der Äquivalentware zufällt (Muscheln, Vieh o.ä.),<br />
daß diese Rolle schließlich mit den Edelmetallen verwächst <strong>und</strong> das allgemeine Äquiva-<br />
55<br />
Konstantinow, S. 313.<br />
56<br />
Engels, MEW 20, S. 2S.<br />
57<br />
Konst. S. 319.<br />
58<br />
ibd. 317.<br />
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