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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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war Bestandteil des Geisteslebens <strong>und</strong> in seine - von göttlicher Satzung bestimmte, keineswegs<br />

freiheitliche Ordnung - eingeb<strong>und</strong>en. Das zeigt sich z.B. daran, daß es noch<br />

keinen Unterschied zwischen Gebot, Recht <strong>und</strong> Sitte gibt. Erst allmählich entsteht geschriebenes<br />

Recht, allerdings auch noch durch theokratische Legitimation. Ein selbständiges<br />

Rechts- <strong>und</strong> Staatsleben entsteht eigentlich erst mit der römischen Republik <strong>und</strong><br />

dem römischen Recht; <strong>und</strong> mit dem „civis romanus“ tritt die menschliche Persönlichkeit<br />

auf den Plan. Die relative Verselbständigung des - sich auf Wissenschaft <strong>und</strong> Technik<br />

stützenden -Wirtschaftslebens ergibt sich erst in der Neuzeit.<br />

Nach Marx sollen sich die geschichtlichen Epochen hauptsächlich durch das Wie der<br />

Produktionsmittel, weniger durch das Was des Produzierten unterscheiden. Steiner dagegen<br />

blickt auf den Kulturstil. Wenn man verstehen will, was griechische Tempel <strong>und</strong><br />

gotische Dome geschichtlich bedeuten, muß man weniger die Unterschiede in den Werkzeugen<br />

der Steinbearbeitung als das ganz andere Selbstempfinden, das andere Weltgefühl<br />

beachten, das sich in der jeweiligen architektonischen Form ausspricht. Die Schaffung<br />

einer ausschließlich zweckrationalen Architektur, bei der in der Tat das Wie der<br />

technischen Machbarkeit den Hauptgesichtspunkt abgibt, ist ja keine allgemeine geschichtliche<br />

Erscheinung, sondern das Produkt unserer modernen Epoche <strong>und</strong> ihrer besonderen<br />

Empfindungsart. Daß der Kapitalismus sich zunächst nur im Abendland entwickelt,<br />

in andere Kontinente von dort aus importiert wurde, macht seine Deutung als ausschließlich<br />

aus innerökonomischer Gesetzmäßigkeit zu verstehendes Phänomen problematisch,<br />

seine Verbindung mit der ,okzidentalen Rationalität‘ - also mit der Bewußtseinsgeschichte<br />

- ist allzu naheliegend. Zu deutlich ist auch die Disfunktionalität zahlreicher<br />

Einrichtungen früherer Epochen in bezug auf die wirtschaftlichen Erfordernisse. Wie soll<br />

man aus diesen die Tempelbauten, das Übermaß der kirchlichen Feiertage im Mittelalter<br />

usw. erklären? Geht all dies nicht über das durch die Formulierung von der relativen<br />

Selbständigkeit des Überbaus, im Rahmen seiner letztinstanzlichen Determiniertheit<br />

durch die Basis, Begründbare weit hinaus?<br />

Die Geschichte ist nicht in den simplen Raster einer Abfolge von fünf primär durch die<br />

Ökonomie bestimmten <strong>und</strong> voneinander unterschiedenen Gesellschaftsformationen zu<br />

bringen. Marx selber scheint das gelegentlich zu spüren <strong>und</strong> nimmt gewisse Relativierungen<br />

vor. So muß er konstatieren, daß gewisse Blütezeiten der Kunst nicht mit dem allgemeinen<br />

Entwicklungsniveau der Gesellschaft übereinstimmen. 38 Eine Relativierung stellt<br />

auch die Sonderstellung der asiatischen Produktionsweise dar, ferner Marx‘ Einschätzung<br />

des russischen Mir, der Dorfgemeinde, hinsichtlich derer er seine im „Kapital“ gegebene<br />

Prognose über die Art <strong>und</strong> Weise des Übergangs zum Sozialismus auf Westeuropa<br />

einschränkte: In einem Brief an Vera Sassulitsch bezeichnet Marx die Dorfgemeinde als<br />

„Stützpunkt der <strong>soziale</strong>n Wiedergeburt Rußlands“, wenn es nur gelänge, ihre normale<br />

Entwicklung gegenüber allen zerstörenden Einflüssen sicherzustellen. 39<br />

Daß in der geschichtlichen Entwicklung - <strong>und</strong> der ökonomischen im speziellen - eine<br />

gewisse Regelhaftigkeit herrscht, ist zwischen <strong>Marxismus</strong> <strong>und</strong> <strong>Anthroposophie</strong> kein<br />

Streitpunkt. So hat nirgendwo die auf „Erz <strong>und</strong> Öl“ beruhende Wirtschaftsform (industrieller<br />

Kapitalismus) vor der auf „Brot <strong>und</strong> Wein“ beruhenden (Ackerbau, Feudalismus) existiert,<br />

<strong>und</strong> diese nirgends vor der von „Milch <strong>und</strong> Honig“ lebenden „Urgesellschaft“ (Hirten,<br />

Sammler). 40 Doch daß man jeweils ganz ähnliche Entwicklungsströmungen „auf den Gebieten<br />

der Kunst, der Dichtung, des öffentlichen Lebens, der verschiedenen Gebiete des<br />

Handwerks <strong>und</strong> des Verkehrs“ 41 in einer bestimmten Epoche aufzeigen kann, liegt nicht<br />

an der Determiniertheit der zuerst genannten Gebiete von der Ökonomie, sondern an der<br />

Determiniertheit aller Gebiete von den Metamorphosen, die die Menschheit im Laufe<br />

ihres geschichtlichen Werdens durchmacht. Und zwar sind diese Metamorphosen vornehmlich<br />

seelische <strong>und</strong> bewußtseinsmäßige; wenn auch die physische Konstitution während<br />

des Zeitraums der anhand äußerer Dokumente erforschbaren Geschichte Steiner<br />

zufolge nicht völlig identisch bleibt, so ist sie doch in höherem Grade bereits vervollkommnet<br />

als die seelisch-geistige Konstitution <strong>und</strong> dieser gegenüber relativ konstant.<br />

Eine entscheidende geschichtliche Gesetzmäßigkeit ist das Gesetz der Individualisierung,<br />

Steiner bezeichnet es als „soziologisches Gr<strong>und</strong>gesetz“: „Die Menschheit strebt am<br />

Anfang der Kulturzustände nach Entstehung <strong>soziale</strong>r Verbände; dem Interesse dieser<br />

Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert; die weitere Entwicklung<br />

38<br />

Vgl. Marx, Gr<strong>und</strong>risse, S. 30.<br />

39<br />

Brief v. 8. 3. 1881, in MEW 35, S. 166.<br />

40<br />

Vgl. Häusler 1972.<br />

41<br />

GA 18 1, S. 52.<br />

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