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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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wohl auf die Gesetze der äußeren Natur, wie auf diejenigen, welche das körperliche <strong>und</strong><br />

geistige Dasein des Menschen selbst regeln [...] Freiheit des Willens heißt daher nichts<br />

anderes als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können. Je freier also das<br />

Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer<br />

Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein; während die auf Unkenntnis<br />

beruhende Unsicherheit, die zwischen vielen verschiedenen <strong>und</strong> widersprechenden<br />

Entscheidungsmöglichkeiten scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit<br />

beweist, ihr Beherrschtsein von dem Gegenstande, den sie gerade beherrschen<br />

sollte. Freiheit besteht also in der, auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten<br />

Herrschaft über uns selbst <strong>und</strong> über die äußere Natur, sie ist damit notwendig ein Produkt<br />

der geschichtlichen Entwicklung.“ 20<br />

Daß Freiheit <strong>für</strong> den <strong>Marxismus</strong> denkbar ist, hängt auch mit der Interpretation des Verhältnisses<br />

von Möglichkeit <strong>und</strong> Wirklichkeit zusammen. Die Wirklichkeit ist realisierte<br />

Möglichkeit, die Möglichkeit potentielle Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist das Primäre, denn<br />

Möglichkeiten existieren nur im Wirklichen. Es gibt ständige <strong>und</strong> unwiederholbare Möglichkeiten,<br />

es gibt das bloß Denkmögliche (abstrakt-formal Mögliche) <strong>und</strong> das konkret-real<br />

Mögliche. In der Geschichte gibt es im Rahmen der gesetzmäßigen Gr<strong>und</strong>richtung Entwicklungsalternativen,<br />

verschiedene objektive Möglichkeiten, wobei es vom Menschen<br />

abhängt, wie sie genutzt werden. 21<br />

„Alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform <strong>und</strong> das Wesen der<br />

Dinge zusammenfielen“, schrieb Marx. 22 Die Kategorien Wesen <strong>und</strong> Erscheinung sollen<br />

verschiedene Seiten der Dinge <strong>und</strong> zugleich ein unterschiedliches Niveau der Erkenntnis<br />

des Objekts widerspiegeln. Das Wesen ist das Bestimmende <strong>und</strong> Notwendige im Objekt,<br />

seine Entwicklungstendenz, seine innere Organisation. Gesetz <strong>und</strong> Wesen sind „Begriffe<br />

gleicher Ordnung“ (Lenin). 23 Die Erkenntnis vertieft sich von der Erscheinung zum Wesentlichen<br />

- die Erscheinung ist das Äußere des Wesens, wobei Inneres <strong>und</strong> Äußeres in<br />

diesem Zusammenhang keine räumliche Beziehung ausdrücken, sondern „die objektive<br />

Bedeutung <strong>für</strong> den Gegenstand selbst.“ 24 Die Erscheinung ist, da mit Unwesentlichem<br />

durchsetzt, auch reicher als das Wesen, zum Schein wird sie da, wo sie den Betrachter<br />

über das Wesen zunächst täuscht. Es gibt keine chinesische Mauer zwischen Wesen <strong>und</strong><br />

Erscheinung, wie Kant sie annahm; es ist das Ding an sich, das in seinen Erscheinungen<br />

hervortritt. Kennen wir alle Erscheinungen des Dings, dann kennen wir auch das Ding<br />

selbst. Wir müssen nur unterscheiden zwischen dem Erkannten <strong>und</strong> dem noch nicht Erkannten:<br />

nicht alle Dinge an sich sind schon zu Dingen <strong>für</strong> uns geworden.<br />

Es muß noch ein Wort zur politischen Relevanz der materialistischen Dialektik verloren<br />

werden: <strong>für</strong> die Strategie <strong>und</strong> Taktik der marxistisch-leninistischen Parteien, seien sie<br />

regierende oder nichtregierende, kommt ihr hohe Bedeutung zu: So soll die Dialektik von<br />

Quantität <strong>und</strong> Qualität beweisen, daß man nicht über eine Summe von Reformen, ohne<br />

den qualitativen Sprung der Revolution, friedlich in den Sozialismus hineinwachsen kann,<br />

wie es die Sozialdemokratie vermeine. Doch ebenso wenig darf man - so wird aus dem<br />

Gesetz herausgelesen - den Sprung unvorbereitet versuchen, eine putschistische Taktik<br />

anwenden. Aus dem Gesetz vom Kampf <strong>und</strong> der Einheit der Gegensätze soll beispielsweise<br />

hervorgehen, daß „antagonistische“ Widersprüche, etwa zwischen Kapitalisten <strong>und</strong><br />

Arbeiterklasse, nur auf dem Wege des Klassenkampfs <strong>und</strong> der <strong>soziale</strong>n Revolution lösbar<br />

sind, während nichtantagonistische Widersprüche auch zwischen verbündeten Klassen<br />

<strong>und</strong> Schichten möglich sind. Mit den übrigen werktätigen Schichten, die im antagonistischen<br />

Verhältnis zum Monopolkapital stehen, kann die Arbeiterklasse eine antimonopolistische<br />

Front bilden. Im Sozialismus ist der gesellschaftliche Antagonismus durch die<br />

Macht der Arbeiterklasse beseitigt, es bleiben aber noch Widersprüche zwischen den<br />

Klassen <strong>und</strong> Schichten, beispielsweise zwischen Arbeitern <strong>und</strong> Genossenschaftsbauern,<br />

vorwiegend körperlich <strong>und</strong> vorwiegend geistig Arbeitenden. Die Kunst, mit Begriffen zu<br />

operieren, die - so Lenin - „eins in den Gegensätzen“ sind 25 , steht politisch hoch im Kurs:<br />

Demokratie <strong>und</strong> Zentralismus, Nationales <strong>und</strong> Internationales, Persönliches <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

werden mit ihrer Hilfe von der führenden Partei ins rechte Lot gebracht. Das Gesetz<br />

der Negation der Negation ist nicht nur <strong>für</strong> die Begründung der historischen Unvermeidlichkeit<br />

des Sozialismus relevant, sondern auch <strong>für</strong> das Verhältnis der Kommunisti-<br />

85<br />

20 MEW 20, S. 106.<br />

21 S. a. Stiehler 1972.<br />

22 MEW 25, S. 825.<br />

23 LW 38, S. 142.<br />

24 Konstantinow, S. 178.<br />

25 LW 38, S. 339.

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