Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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enen Paradoxon, die Gesellschaft „in zwei Teile - von denen der eine über den anderen<br />
erhaben ist - sondieren“ zu müssen. 6<br />
Steiners „soziologisches Gr<strong>und</strong>gesetz“ drückt die geschichtliche Gr<strong>und</strong>tendenz angemessen<br />
aus: „Die Menschheit strebt am Anfang der Kulturzustände nach Entstehung<br />
<strong>soziale</strong>r Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums<br />
geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem<br />
Interesse der Verbände <strong>und</strong> zur freien Entfaltung der Bedürfnisse <strong>und</strong> Kräfte des einzelnen.“<br />
7 Am Anfang der Kulturzustände gibt es menschheitspädagogisch keine Alternative<br />
zur Erziehungsdiktatur, diese war totalitär, insofern kein Lebensgebiet von der Regelung<br />
durch Gebote ausgespart blieb. Und sie war elitär, insofern sie von einer Minderheit Eingeweihter<br />
ausgeübt wurde, die dem Volk das Wissen um die Geheimnisse der Evolution<br />
voraushatten; aus diesem besonderen Wissen leiteten sie ihre Sonderstellung her. Auch<br />
Marx <strong>und</strong> Engels stellen die zeitweilige historische Notwendigkeit einer die Interessen<br />
vieler Individuen opfernden <strong>soziale</strong>n Struktur mit wenigen Bevorrechtigten heraus <strong>und</strong><br />
sehen die Entwicklung auf eine „Assoziation“ zulaufen, in der „die freie Entwicklung eines<br />
jeden die Voraussetzung <strong>für</strong> die freie Entwicklung aller ist.“ (Manifest der Kommunistischen<br />
Partei) 8 . An derselben Stelle findet sich aber auch eine Formulierung, die wie ein<br />
Nachhall jenes Anfangs der Kulturzustände anmuten kann, nämlich die Feststellung, die<br />
Kommunisten hätten zwar keine von denen des übrigen Proletariats getrennten Interessen,<br />
jedoch dem übrigen Proletariat die Einsicht in die Bedingungen, den Gang <strong>und</strong> die<br />
allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus. 9 Wer je verfolgt hat, wie<br />
kommunistische Parteiveranstaltungen gleichsam zelebriert werden, hat eine Ahnung von<br />
jenem Bewußtsein, das im Extremfall dazu führt, daß die Partei als organisierter Vortrupp<br />
des historischen Subjekts Proletariat <strong>für</strong> sich in Anspruch nimmt, stellvertretend <strong>für</strong> diejenigen<br />
handeln zu dürfen, die noch nicht reif sind zur Subjektivität.<br />
Im Ziel der freien Entwicklung eines jeden gibt es weit eher Übereinstimmung als in<br />
den Schritten dorthin. Für Steiner ist die effektivste Revolution <strong>und</strong> zugleich die subversivste<br />
die Bewußtseinsrevolution: den „neuen Menschen“ schafft nur sie, denn dieser ist<br />
der freie Geist, zu dem sich jeder nur selber machen kann. Man kann niemanden zur<br />
Freiheit zwingen; das ist das Paradoxon, in dem sich Erziehungsdiktaturen verstricken<br />
müssen.<br />
Unterschiede gibt es auch in der Frage nach dem Wesen der Klassen. <strong>Anthroposophie</strong><br />
kann die Ursache der Klassenstruktur weder bloß in biologischen noch in rein gesellschaftlichen<br />
Bedingungen sehen, weil sie eine Schicht im Menschen anerkennt, die<br />
weder durch die Erbmasse noch durch das gesellschaftliche Umfeld bestimmt ist. Es ist<br />
die Schicht der individuellen Veranlagungen, die mit dem Reinkarnationsaspekt der Individualität<br />
zusammenhängen. Die Ursache der Ungleichheit unter den Menschen, sowohl<br />
was die Richtung als auch was das Maß der Begabung angeht, liegt nicht einfach in der<br />
gesellschaftlichen Struktur - diese ist vielmehr immer auch ein Ausfluß der Ungleichheit<br />
der Menschen. Die wiederum ist nicht einfach biologisch bedingt, weshalb auch <strong>soziale</strong><br />
Ungleichheit nie als eine „Naturgegebenheit“ gerechtfertigt werden kann. Im System der<br />
horizontalen <strong>und</strong> vertikalen Arbeitsteilung (d.h. der Arbeitsteilung zwischen mehr leitenden<br />
<strong>und</strong> mehr aus- <strong>und</strong> durchführenden Tätigkeiten) reflektieren sich u.a. individuelle<br />
Verschiedenheiten der Menschen. Ebenso offensichtlich ist, daß es sozialstrukturelle<br />
Unterschiede zwischen Menschen <strong>und</strong> Menschengruppen gibt, die nicht durch das „Fähigkeitsgefälle“<br />
bedingt sind. Wie Fähigkeiten entwickelt <strong>und</strong> Anlagen ausgelebt werden<br />
können, das ist in hohem Maße eine Frage der gesellschaftlichen Ordnung. Die Praxis<br />
zeigt, daß auch in den sozialistischen Ländern eine gewisse gesellschaftliche Pyramide<br />
besteht: eine Polarität zwischen Arbeitsleitung <strong>und</strong> Arbeitsleistung. Dies wird zum einen<br />
mit dem Reifegrad des Sozialismus/Kommunismus begründet, in dem noch das Prinzip<br />
„Jedem nach seinen Fähigkeiten“, noch nicht das Prinzip „Jedem nach seinen Bedürfnissen“<br />
gelte. Doch kann dieses Argument nur gelten, wenn man die Existenz eines „Fähigkeitsgefälles“<br />
anerkennt: man wendet sich ja auch expressis verbis gegen „Gleichmacherei“.<br />
Andererseits verwahrt man sich ausdrücklich gegen jeden Versuch, die gesellschaftliche<br />
Pyramide im Sinne einer neuen Klassenspaltung zu interpretieren, wie das z.B.<br />
Djilas in seinem Buch „Die neue Klasse“ getan hatte. Er <strong>und</strong> verwandte Denker haben<br />
6 MEW 3, S. 5. Die „revolutionäre Praxis“ (S. 6) war von Marx als Ausweg aus dem Dilemma konzipiert,<br />
wurde aber von ihm eingeholt. Gemeineigentum mit genossenschaftlichen Sektoren hat ja interessanterweise<br />
bereits in Form theokratischen Staatseigentums in der „asiatischen Produktionsweise“ existiert.<br />
7 S. GA 31, S. 255ff.<br />
8 MEW 4, S. 482. Zur Notwendigkeit des Antagonismus z.B. Engels, MEW 20, S. 168.<br />
167<br />
9 MEW 4, S. 474.