Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen
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Anführungszeichen, da es sich nicht um einen Kanon verbindlicher Vorschriften handelt -<br />
ist kein Aggregat von „durchzunehmendem Stoff“, sondern Instrument der Erziehungskunst,<br />
das den Schülern helfen soll, sich individuell mit der Welt zu verbinden.<br />
Ein - zunächst formaler Bezug - zur sozialistischen Pädagogik ist die starke Betonung<br />
praktischer Momente: Die Schüler beschäftigen sich mit Feldmessen <strong>und</strong> technischem<br />
Zeichnen, jede Schule hat in der Regel ihren Schulgarten. Im Werken - Schnitzen, Spinnen<br />
usw. - sollen Umgangserfahrungen mit verschiedenen Materialien gemacht, Wille<br />
<strong>und</strong> Bewußtsein im Überwinden des Widerstandes der Gegenständlichkeit geschult <strong>und</strong><br />
geschärft werden: Aneignung der Welt ist Sache des ganzen Menschen, nicht bloß des<br />
Kopfmenschen. Der Handarbeitsunterricht an der Waldorfschule ist selbstverständlich<br />
keine Sache bloß <strong>für</strong> die Mädchen. Technologie ist Bestandteil des Lehrplans. Dabei geht<br />
es weniger um unmittelbare Berufsvorbereitung - einige Waldorfschulen bieten auch dies<br />
-, sondern um Erfahrungen, die zum Durchschauen der technischen Welt notwendig sind.<br />
Dazu gehört natürlich, daß die Schüler eine Vorstellung davon bekommen, wie eine Elektrolok<br />
oder ein Computer funktionieren. Das praktische <strong>und</strong> künstlerische Tun - zum<br />
Leben der Schule gehören Monatsfeiern, Klassenspiele usw. - soll auch Eigeninitiative<br />
<strong>und</strong> <strong>soziale</strong> Fähigkeiten fördern. 21<br />
Die Stoffverteilung, das Ineinandergreifen von mehr intellektueller <strong>und</strong> künstlerischpraktische<br />
Betätigung, all das wird von menschenk<strong>und</strong>lichen Überlegungen bestimmt.<br />
Man benutzt den Schlaf-Wach-Rhytmus aus, in dem man den erzählten Stoff sich über<br />
Nacht „setzen“ läßt <strong>und</strong> ihn erst am nächsten Tag bespricht <strong>und</strong> gedanklich durchdringt.<br />
Ständiges Leitziel ist ein altersgerechter Unterrricht, der die Entwicklung der Schüler optimal<br />
fördert, weil er von den jeweiligen physiologischen <strong>und</strong> entwicklungspsychologischen<br />
Gegebenheiten ausgeht. So wird man, um nur ein Beispiel zu nennen, im Geschichtsunterricht<br />
der 5. <strong>und</strong> 6. Klasse die Geschichte der alten Kulturen vor allem erzählend,<br />
an Personen <strong>und</strong> ihren Motiven entwickeln, während in der 10. Klasse dieselbe<br />
Thematik - dem Verständnisvermögen dieses Alters <strong>für</strong> größere Zusammenhänge entsprechend<br />
- unter dem Gesichtspunkt der Herausbildung der jeweiligen Kulturen in der<br />
Auseinandersetzung mit ganz bestimmten geographischen Voraussetzungen behandelt<br />
werden kann. 22<br />
Im letzten Kapitel des ersten Teils dieser Arbeit wurde bereits darauf hingewiesen, wie<br />
sich dem entsprechend geschulten Bewußtsein eine Wesensgliederung des Menschen<br />
ergeben kann, die im „Ich“ ihren Mittelpunkt findet. Es ist konstitutiv <strong>für</strong> Steiners Pädagogik,<br />
daß sie die Entwicklung des Heranwachsenden als Veränderung im Verhältnis dieser<br />
Wesensglieder zueinander zu erfassen vermag. 23<br />
Ganz grob kann man die folgenden Entwicklungsschritte bei Steiner beschrieben finden:<br />
Im ersten Lebensjahrsiebt bilden Psyche <strong>und</strong> Lebensprozesse mit dem Physischen<br />
noch weitgehend eine Einheit. Das Kind gibt sich der Welt mit allen Sinnen hin, kann sich<br />
noch nicht von den unmittelbaren Wahrnehmungen distanzieren. Die menschliche<br />
Selbstgestaltungskraft lebt sich zunächst im Aufbau des Körpers, im Erwerb von aufrechtem<br />
Gang, Sprache <strong>und</strong> Denkvermögen aus. Lernen geschieht durch Nachahmung, die<br />
schließlich bis ins phantasievolle Rollenspiel geht. Diese Phase der Dominanz der Nachahmung<br />
wird durch den physiologischen Einschnitt des Zahnwechsels beendet. Die Lebenskräfte,<br />
die in der Ausformung des Organischen bis dahin geb<strong>und</strong>en waren, werden<br />
nun zum Teil frei <strong>und</strong> stehen dem Kind als Vorstellungskräfte zu Verfügung: Die Vorstellung<br />
vermag sich nun von der Wahrnehmung zu lösen.<br />
Innenwelt <strong>und</strong> Außenwelt beginnen sich voneinander abzuheben. Für das Kind wird<br />
jetzt die Autorität wichtig, nicht im Sinne des äußeren Zwanges, sondern im Sinne der<br />
Möglichkeit, durch Orientierung an der richtunggebenden Persönlichkeitskraft einer geliebten<br />
Person zu lernen. Der Waldorflehrplan rechnet mit dieser Notwendigkeit. Die Waldorfpädagogik<br />
lehnt es ab, die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten künstlich zu beschleunigen,<br />
auf Kosten etwa der Phantasiekräfte. So wie die Menschheit als ganze das<br />
Verstandesmäßige aus einer mehr am Bild haftenden Bewußtseinsverfassung entwickelt<br />
hat, vom Mythos zur Logik gekommen ist, so sollen auch die Schüler zunächst noch stark<br />
bildhaft lernen, z.B. bei der Aneignung der Buchstabenformen. Fabeln <strong>und</strong> Legenden<br />
haben in den ersten Jahren ihren festen Platz im Unterricht. Man beginnt gleich im ersten<br />
Jahr mit dem Fremdsprachenunterricht, denn in diesem Alter lernen die Kinder Sprachen<br />
21<br />
Zum „Lehrplan“ vgl. auch Heydebrand 1979.<br />
22<br />
Vgl. Lindenberg in Leber (Hg.) 1885, S. 211ff. In diesem Buch finden sich ebenfalls wichtige Erläuterungen<br />
zum „Lehrplan“ verschiedener Fächer.<br />
23<br />
Vgl. Steiner, Die Erziehung des Kindes, <strong>und</strong> Lindenberg, Lebensbedingungen, 1981.<br />
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