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Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

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äumen „wegerklären“; daß sie nicht in abweichenden Überlieferungen ihre Wurzel haben,<br />

ergibt sich <strong>für</strong> ihn aus seinen „okkulten Forschungen“ heraus. Max Dessoirs Einwand,<br />

die unterschiedlichen Versionen über Homers Herkunft veranlaßten schließlich<br />

auch niemanden, die Existenz von sieben Homer-Knaben zu postulieren, geht an diesem<br />

Motiv vorbei <strong>und</strong> ignoriert auch die Einmaligkeit der Christus-Jesus-Existenz, die denkbar<br />

macht, was sonst als absurd abzutun wäre. 22<br />

Die Aufklärung hat sich am meisten am „W<strong>und</strong>erglauben“ des kirchlichen Christentums<br />

gestoßen. Nach Steiner verkannte sie dabei aber, daß die Auffassung der religiösen<br />

Urk<strong>und</strong>en in einem platten physisch-tatsächlichen Sinne bereits eine Vulgarisierung, eine<br />

Dekadenzerscheinung darstellt, durch die erst das abergläubische Element in das Evangelien-Verständnis<br />

hineinkommt. So mochte sich die Volksreligion erst in der Zeit des<br />

Übergangs vom „Mythos“ zum abstrakt-logischen Denken die Götter immer plattsinnlicher<br />

vorstellen, so wäre noch im Frühmittelalter keinem eingefallen, das Sechs-<br />

Tage-Werk der Schöpfungsgeschichte in einem platten Sinne als Aussage über die tatsächliche<br />

zeitliche Dauer der Schöpfung anzusehen. Es wird meist verkannt, daß der<br />

„Sturmvogel der griechischen Aufklärung“, Xenophanes, den Anthropomorphismus der<br />

volkstümlichen religiösen Vorstellungen keineswegs aus „modern-religionskritischer“,<br />

sondern aus Mysteriensicht kritisiert. 23 So darf man nach Steiner auch die Weltuntergangserwartung<br />

der frühen Christen nicht im heute mit diesem Wort verb<strong>und</strong>enen Sinne<br />

auffassen: sie beziehe sich in Wahrheit auf den Untergang der alten Welt, in der dem<br />

Menschen aus seinen Blutskräften, ohne sein bewußtes Zutun, instinktive Erkenntnis<br />

zufloß. Als man später im 9.-11. Jahrh<strong>und</strong>ert wieder in eine Weltuntergangsstimmung<br />

gerät, ist schon materialistisch-Abergläubisches im Spiel. „Und so entsteht aus dieser<br />

Stimmung heraus die Stimmung der Kreuzzüge: den Christus materiell im Orient in seinem<br />

Grabe wenigstens noch zu suchen [...]“ 24<br />

Nach Steiner muß man die W<strong>und</strong>er aus dem Charakter der Mysteriensprache der Evangelien<br />

verstehen: „Sie sollen die physische Gesetzmäßigkeit der Welt durchbrechen.<br />

Das tun sie nur solange, als man sie <strong>für</strong> Vorgänge hält, die sich im Physischen, im Vergänglichen,<br />

so zugetragen haben sollen, daß sie die gewöhnliche Sinneswahrnehmung<br />

ohne weiteres hätte durchschauen können. Sind sie aber Erlebnisse, die nur auf einer<br />

höheren, auf der geistigen Daseinsstufe durchschaut werden können, dann ist es von<br />

ihnen selbstverständlich, daß sie nicht aus den Gesetzen der physischen Naturordnung<br />

begriffen werden können.“ 25 Das heißt andererseits nicht, daß es sich z.B. bei den Heilungen<br />

Christi um allegorische oder symbolische Beschreibungen handelt: sie gelten<br />

Steiner durchaus als real, w<strong>und</strong>erbar allerdings nur in einem ähnlichen Sinne, in dem<br />

etwa bestimmte Heilweisen der alt-chinesischen Medizin <strong>für</strong> die Moderne nicht erklärlich<br />

sind. Die Auferweckung des Lazarus deutet Steiner als Einweihungsvorgang, den Jesus<br />

Christus öffentlich vornimmt: In den Mysterienstätten der Antike wurde der Einzuweihende<br />

in einen todähnlichen Schlaf versetzt. Jesu Verfolgung durch die führenden jüdischen<br />

Kreise sei in Wahrheit wegen „Mysterienverrates“ erfolgt, damals ein todeswürdiges Verbrechen.<br />

26<br />

Die moderne Religionswissenschaft geht an die religiösen Vorstellungen der Menschheit<br />

so heran, daß sie sie beschreibt, untereinander vergleicht, analysiert, Beeinflussungen<br />

der einen durch die anderen aufzuweisen versucht usw. Für Steiner dagegen lassen<br />

sich die Beziehungen der religiösen Vorstellungen untereinander nur dann entschlüsseln,<br />

wenn man die Beziehungen dieser Vorstellungen zur Ebene einer wesenhaften geistigen<br />

Realität durchschaut, auf die sie sich beziehen: Die Mythen verschiedener Völker schildern<br />

- in unterschiedlicher Bildsprache, unter verschiedenen Namen - oft dieselben geistigen<br />

Vorgänge <strong>und</strong> Wesen. Von daher ergeben sich überraschende Beziehungen zwischen<br />

den „Göttern“ der heidnischen Tradition <strong>und</strong> den Erzengeln, Thronen, Seraphimen<br />

usw. der esoterisch-christlichen Tradition, die über Paulus <strong>und</strong> die „Dionysius-Areopagita-<br />

Schriften“ 27 auch einen gewissen Eingang in das Christentum der römischen Kirche gef<strong>und</strong>en<br />

hat. Erst die Dogmatisierung des Religiösen führt <strong>für</strong> Steiner zu den unüberbrückbaren<br />

Gegensätzen <strong>und</strong> der Verständnislosigkeit, die die Voraussetzung <strong>für</strong> alle Glaubens-<br />

<strong>und</strong> Religionskriege ist.<br />

188<br />

22 Vgl. Dessoir 1979, S. 486.<br />

23 Vgl. GA 8, S. 34f.<br />

24 GA 204, S. 289, vgl. S. 288.<br />

25 GA 8, S. 114.<br />

26 Vgl. in GA 8.<br />

27 Dazu vgl. in GA 93a, Vortr. 8.10.05, <strong>und</strong> GA 204, 15.4.21.

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