06.01.2013 Aufrufe

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

Marxismus und Anthroposophie - Institut für soziale Gegenwartsfragen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

entschiedene gesellschaftsverändernde Maßnahmen zu gewinnen. Nach dem Kriegsende<br />

setzt Steiner dann mit dem „Aufruf an das deutsche Volk <strong>und</strong> an die Kulturwelt“ eine<br />

Volksbewegung <strong>für</strong> die „Dreigliederung“ in Gang, die besonders im südwestdeutschen<br />

Raum nicht ohne größere Resonanz blieb, vor allem unter der Arbeiterschaft, aber letztlich<br />

ebenfalls an der Blockierung des Bewußtseins scheiterte.<br />

Den Geschichtswissenschaftlern gilt es gewöhnlich als müßige Spekulation, darüber<br />

nachzusinnen, wie die Geschichte anders hätte verlaufen können. Doch kann die nichtgewordene<br />

Geschichte nicht nur <strong>für</strong> das Verständnis der gewordenen wichtige Gesichtspunkte<br />

liefern, sondern auch in die werdende Geschichte eingreifen, wenn zunächst zurückgedämmte<br />

Impulse <strong>und</strong> Bestrebungen unter veränderten Voraussetzungen doch<br />

noch zum Zuge kommen. Deshalb ist die in der anthroposophischen Literatur eine Rolle<br />

spielende Frage nicht irrelevant, welche Voraussetzungen <strong>für</strong> die Drei-gliederung entstanden<br />

wären, wäre jener badische Erbprinz, dessen Identität mit dem rätselhaften Kaspar<br />

Hauser man dabei als gesichert annimmt, nicht von interessierten Kräften ausgeschaltet<br />

worden. Man wird freilich gegenüber Deutungsmustern skeptisch bleiben müssen,<br />

die die gesamte unheilvolle deutsche Entwicklung bis 1933 bzw. 1945 einzig darauf<br />

zurückführen; eine derartige Simplifikation des Geschichtsbildes kann sich kaum auf<br />

Steiner berufen. 22 Dessen Hoffnungen auf Reformen von oben halten sich durchaus in<br />

Grenzen: Mit dem von Marx <strong>und</strong> Engels im „Kommunistischen Manifest“ ironisierten feudalen<br />

Sozialismus hat sein Konzept so wenig zu tun wie mit dem „deutschen oder wahren“.<br />

Das bedingt schon Steiners zeitweilige Nähe zu einem gewaltfreien Anarchismus<br />

<strong>und</strong> „AntiEtatismus“.<br />

Allerdings steigert sich dieser Anti-Etatismus nicht bis zur totalen Staatsverneinung.<br />

Es geht Steiner - im Gefolge Humboldts - um den „Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit<br />

des Staates zu bestimmen“. 23 Der Staat hat sich nach Steiner auf den rechtlichen Bereich<br />

zu beschränken <strong>und</strong> das Wirtschaftsleben auf der einen <strong>und</strong> das geistig-kulturelle Leben<br />

auf der anderen Seite aus seiner Oberhoheit zu entlassen. Steiner verkennt nicht deren<br />

zeitweilige Berechtigung, ohne die das Kulturleben in dem freier Forschung feindlichen<br />

Machtbereich der kirchlichen Hierarchie verblieben wäre. Aber er sieht auch, daß die<br />

staatliche Oberhoheit zu neuen Abhängigkeiten geführt, daß die anonyme Allzuständigkeit<br />

des Staates komplizierte Strukturen bürokratischer Omnipotenz geschaffen hat.<br />

Demgegenüber muß es darum gehen, Selbstverantwortung <strong>und</strong> Selbstverwaltung in allen<br />

Bereichen zu stärken. Im Ziel gesellschaftlicher Selbstverwaltung sind Marx <strong>und</strong> Steiner<br />

sich einig. Doch während <strong>für</strong> Marx staatliche Organisation <strong>und</strong> Selbstverwaltung sich<br />

ausschließen <strong>und</strong> der Staat deshalb gänzlich absterben soll, glaubt Steiner an die Notwendigkeit<br />

einer besonderen rechtlich-staatlichen Sphäre auch jenseits der Klassengesellschaft.<br />

Diese ergibt sich <strong>für</strong> ihn aus anthropologischen Gesichtspunkten: Eine solche<br />

Sphäre ist die Bedingung der Möglichkeit eines geordnet-friedlichen Nebeneinander <strong>und</strong><br />

Miteinander der Menschen. Spricht der <strong>Marxismus</strong> von Fähigkeiten <strong>und</strong> Bedürfnissen<br />

nach denen die Gesellschaft eingerichtet sein sollte, so ergänzt Steiner, daß menschliche<br />

Bedürfnisse ein Wirtschafts-, menschliche Fähigkeiten ein Geistesleben konstituieren,<br />

daß das dritte Vermittelnde zwischen beiden, das in seiner selbständigen Bedeutung vom<br />

<strong>Marxismus</strong> unterbelichtete Rechtsleben, aus der menschlichen Gefühlssphäre erwächst,<br />

dem Gespür <strong>für</strong> das, was recht <strong>und</strong> billig ist. „Die Menschen kommen durch ihre Gefühle,<br />

die sie gegenseitig <strong>für</strong>einander entwickeln in solche Beziehungen, daß sie diese Beziehungen<br />

in Rechten festlegen, festsetzen.“ 24 Mündige Menschen vereinbaren in Verträgen<br />

Rechte <strong>und</strong> Pflichten, sie stimmen über den rechtlichen Rahmen solcher Vereinbarungen<br />

ab bzw. wählen eine Volksvertretung, die darüber abstimmt. Sie setzen eine öffentliche<br />

Gewalt ein, die über die Einhaltung der Gesetze wacht <strong>und</strong> Parlament <strong>und</strong> Wählern verantwortlich<br />

ist. Die anthropologische Begründung gibt aber nicht nur die Aufgaben, sondern<br />

auch die Grenzen der Demokratie an: Es „können nur über diejenigen Dinge Beschlüsse<br />

gefaßt werden, in denen der einzelne Mensch als gleicher jedem anderen Menschen<br />

in Wirklichkeit gleich ist. Das heißt: Es können nur Beschlüsse gefaßt werden auf<br />

demokratischem Boden, über die jeder mündig gewordene Mensch dadurch, daß er<br />

mündig geworden ist, urteilsfähig ist.“ 25<br />

Dieses Konzept impliziert denn auch, daß die Rechtsprechung - im Gegensatz zu Gesetzgebung<br />

<strong>und</strong> Verwaltung - in das dritte Glied des <strong>soziale</strong>n Organismus, das Geistesle-<br />

22<br />

Zu Hauser vgl. Heyer 1983. Tradowski 1981 hat mit der genannten Gefahr zu kämpfen.<br />

23<br />

Humboldt 1962 (1851).<br />

24<br />

GA 332a, S. 92.<br />

25<br />

ibd. S. 94.<br />

172

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!