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Textdokumentation<br />
befruchtete, aus dem Nichts in bereits weitgehender Vollendung auftauchte, die doch der klassischen<br />
bzw. hellenistischen zutiefst widersprach, so ist das nur erkl rlich unter der Annahme, daß diese Form<br />
der Romantik unter der Decke der Klassik weiterschlummerte. Ausgewogener, jede einzelne sich fester<br />
behauptend, spielen diese beiden Antipoden im Goethezeitalter als Klassizismus und Romantik in ausgereifter<br />
Form [Seite 17:] eine bedeutende Rolle. Da aus diametral verschiedenen Urgr nden gespeist,<br />
ist eine Verst ndigung zwischen beiden unm glich. Wie man sie auch im Laufe der Geschichte bezeichnet<br />
hat: romantisch und klassisch, dionysisch und appolinisch, Pathos und Ethos, expressionistisch und<br />
abstrakt - alles sind nur Symbole f r die Gegen berstellung der affektiv-subjektiv gebundenen und der<br />
geistig-abstrahierenden Tendenzen. Das entspricht dem "ewigen Dualismus in der Kunst" (Sachs). Wer<br />
aus diesem Kampf, den sie immer f hren m gen, als Sieger hervorgeht, das entscheidet die geistige<br />
Situation der Zeit, wobei die Durchschlagskraft der eine Bewegung tragenden Pers nlichkeiten zwar<br />
wesentlich, aber nicht entscheidend ist. Die Zeit muß reif sein f r einen Umbruch. Alles im Leben geschieht<br />
von einer h heren Ordnung aus.<br />
Wir versuchen unsere Position zu bestimmen. Eine Zeit, in der das Problem der Neuordnung der<br />
Welt akut ist, die Gesellschaftsordnung nach uns glichen Wirren nach einer neuen Form sucht. In der<br />
die Religion sich trotz scheinbarer ußerer Bl te in einer Krise befindet und Tendenzen zu einer berkonfessionellen<br />
Kirche sich anbahnen, unabh ngig von einzelnen Dogmen und dar ber hinaus zu einem<br />
neuen Glauben. In der sich die Medizin wieder auf ihre urspr ngliche Aufgabe besinnt, nachdem sie<br />
unter dem Materialismus einer Entseelung zutrieb und jetzt k rperliches und seelisches Geschehen unter<br />
einem gemeinsamen Gesichtspunkt betrachtet. In der unser physikalisches Weltbild sich entmaterialisiert,<br />
immer abstrakter wird, die Materie im fr heren Sinne aufl st in Kr fte, die identisch sind mit der<br />
Materie, die letztlich mit den menschlichen Sinnen nicht mehr erfaßbar sind, "nicht nur unsichtbar,<br />
sondern auch unsehbar."<br />
Der Weg f hrte auch in der Kunst zu einer konsequenten Entkleidung vom gegenst ndlich-inhaltlichen<br />
und vom sentimentalen z berpers nlichen Werten mit der Idee, wieder ein reines, von Gef<br />
hlsmomenten und subjektiven Erlebnissen befreites Werk zu schaffen. Jedes Werk hat zwar ein Erlebnis<br />
zur Voraussetzung, dessen unmittelbare Darstellung aber nicht Aufgabe des K nstlers ist. Die<br />
Betonung von Gef hls- und Stimmungsmomenten liegt außerhalb unserer Forderung an das Kunstwerk.<br />
Franz Marc erkannte dies: "Es ist eine ebenso richtige wie große Sache, durch das Abstrakte allgemeinltiges<br />
wie einigendes auszudr cken" und sein Satz, "daß es in der europ ischen Kunst nur ganz, ganz<br />
wenig reine Bilder gibt," bezieht sich auf diese Wertung.<br />
Die gleiche Tendenz ist aber auch in den anderen K nsten ablesbar. Es ist wohl kein Zufall, daß<br />
erst nach der Jahrhundertwende die Alterslyrik Goethes und die sp ten Ges nge H lderlins gew rdigt<br />
wurden. Der in seiner fr heren und mittleren Zeit noch gef hls- und ichbezogene Rilke forderte sp ter,<br />
"daß der Schaffende sich m glichst vom Erleben zur ckziehen und vielmehr den Dingen dieser Welt<br />
gerecht werden m sse, anstatt sie dazu zu mißbrauchen, des Dichters eigene Gef hle und Schmerzen zu<br />
beschreiben; die Forderung, in einer Welt der wachsenden Vergleiche die Dinge auf sich und in sich<br />
beruhen zu lassen" - wie dies Erwin W sche rzlich in einer sch nen Analyse dargestellt hat. Der bekannte<br />
Grabspruch "Rose, oh reiner [Seite 18:] Widerspruch, Lust, niemandes Schlaf zu sein unter so<br />
viel Lidern" ist eine abstrakte Form der Dichtung. In der Musik finden wir hnliche Tendenzen, wenn<br />
sie sich hier auch nicht so durchgehend abzeichnen. Wir entfernen uns heute von dem romantischen<br />
Schwelgen und der Melodramatik, wie sie Ortega y Gasset als das Kennzeichen aller K nste um die<br />
Jahrhundertwende ansprach.<br />
Die Zur ckdr ngung des Gef hlsm ßigen wird oft bedauert und k nnte auch negativ gewertet<br />
werden. Wir finden sie wieder als Kennzeichen alter Kulturen und des gereiften Menschen, w hrend<br />
niemand seinen Affekten und Trieben so unterworfen ist wie der Primitive und der Jugendliche. Aber<br />
absolute Wertungen gibt es da nicht. Man kann die physiologische Affektbetonung des jungen Menschen<br />
positiv und negativ werten. Auch die Weisheit des Alters ist nicht nur geistige W rde und abge-