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Natur als Grenzerfahrung - Oapen

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Justin Stagl<br />

In der Epoche vor der wissenschaftlichen Revolution, grob gesprochen zwischen<br />

dem 15. und der Mitte des 17. Jahrhunderts, verarbeitete man Erfahrungswissen<br />

mittels der Rhetorik, der Redekunst, wie sie aus der Antike übernommen<br />

und vom Humanismus fortentwickelt worden war. Neben der Sprache befasste<br />

sich die Rhetorik auch mit den zur Sprache kommenden Dingen, „res et verba“, wie<br />

seinerzeit Cicero es formuliert hatte. 6 Die Humanisten hatten das rhetorische Arrangement<br />

der Dinge und der Wörter von der mündlichen auf die schriftliche Rede<br />

übertragen. Schriftlichkeit kann eine längere Aufmerksamkeitsspanne voraussetzen<br />

<strong>als</strong> die mündliche Rede vor Zuhörern; so konnte die Rhetorik auch die Bewältigung<br />

größerer Stoffmengen in einer strukturierteren und dauerhafteren Weise ins<br />

Auge fassen. Zur schönen und wirkungsvollen behandelte sie nun auch die richtige<br />

Rede und entwickelte sich damit zur Wissenschaftslehre. 7<br />

Vorangetrieben wurde diese Entwicklung auch durch die Buchdruckerkunst.<br />

Vorhandenes, aber zerstreutes Wissen konnte in Druckwerken zusammengestellt<br />

und gegliedert, vor allem aber wesentlich weiter verbreitet werden <strong>als</strong> durch Manuskripte.<br />

Es entstand ein lesendes Publikum. Der Leser ist selbstbestimmter <strong>als</strong> der<br />

Zuhörer. Das führte zur Demokratisierung des Wissens. 8 Für das Entdeckungszeitalter<br />

kam diese Kapazitätssteigerung der Wissensverarbeitung geradezu recht.<br />

Die hiermit befassten Gebildeten formierten sich zu einer Interessensgemeinschaft,<br />

die Erasmus von Rotterdam die „Gelehrtenrepublik“ (res publica litteraria)<br />

genannt hat. 9 In dieser dezentralen Gemeinschaft, welche die Trennung nach Ständen,<br />

Konfessionen und Nationen übergriff, zirkulierte das in immer größeren<br />

Mengen hereinströmende Erfahrungswissen, wurde in Verbindung gesetzt und auf<br />

Begriffe gebracht, die dann in das kulturelle Gedächtnis (Jan Assmann) Europas<br />

eingingen. Der Ständegesellschaft, den Kirchen und den Regierungen war es auf<br />

die Dauer nicht möglich, die res publica litteraria zu disziplinieren, waren doch auch<br />

sie auf das neue Wissen angewiesen. Auch wenn die Gelehrten im Dienste dieser<br />

Mächte standen oder doch deren Pressionen ausgesetzt waren: Als Intellektuelle<br />

waren sie selbstbestimmt und konnten nur von ihresgleichen beurteilt werden. 10<br />

Die alles Erfahrungswissen integrierende Denkfigur war in der Frühen Neuzeit<br />

das „Buch der Welt“ oder auch „Buch der <strong>Natur</strong>“. 11 Welt oder <strong>Natur</strong> wurden wie<br />

6 Cicero De or. 63. Vgl. auch Foucault, M.: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris<br />

1966.<br />

7 Nachweise in Stagl: Geschichte, S. 129-140.<br />

8 Weber, W. E. J.: Buchdruck, Repräsentation und Verbreitung von Wissen, in: Van Dülmen / Rauschenbach:<br />

Macht, S. 65-87.<br />

9 Schalk, F.: Von Erasmus’ ‘Res publica litteraria’ zur Gelehrtenrepublik der Aufklärung, in: ders.: Studien zur<br />

französischen Aufklärung, Frankfurt a. M. 21977, S. 143-163; Jaumann, H. (Hg.): Die europäische Gelehrtenrepublik<br />

im Zeitalter des Konfessionalismus, Wiesbaden 2001, bes. S. 11-20.<br />

10 Vgl. auch Stagl: Geschichte, S. 125-129.<br />

11 Vgl. dazu Goertz, H.-J.: Von der Kleriker- zur Laienkultur. Glaube und Wissen in der Reformationszeit, in:<br />

Van Dülmen / Rauschenbach: Macht, S. 39-64; Van Dülmen, R.: „Das Buch der <strong>Natur</strong> – die Alchemie,<br />

ebd., S. 131-154 sowie neuerdings Jorink, E.: Het Boeck der Natuere. Nederlandse geleerden en de wonderen<br />

van Gods Schepping 1575-1715, Leiden 2007.

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