Natur als Grenzerfahrung - Oapen
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Justin Stagl<br />
rimentelle Forschung sucht die Bedingungen zu kontrollieren, unter denen sie ihre<br />
Objekte entgegenzunehmen bereit ist. Die <strong>Natur</strong> wird hier, wie der Bahnbrecher<br />
der Experimentalwissenschaft, Francis Bacon, es ausgedrückt hat, „gequält“ (vexed)<br />
oder auch „gefoltert“ (tortured). 34 Diese Form der Forschung gab es schon lange, so<br />
in den „mechanischen Künsten“ und in der Alchimie, doch sie hat sich erst in der<br />
„wissenschaftlichen Revolution“ der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts 35 <strong>als</strong> die<br />
maßgebliche durchgesetzt.<br />
Die sammelnde Forschung war die von den Humanisten bevorzugte Form des<br />
Empirismus. 36 Im Entgegennehmen ihrer Objekte so wie sie sie vorfand entsprach<br />
sie der Vorstellung von einer diskreten, sozusagen körnigen Beschaffenheit der<br />
<strong>Natur</strong>, die aus qualitativ-quantitativ unterschiedlichen kleinsten Einheiten (Monaden)<br />
bestehend gedacht wurde. Eine derartige <strong>Natur</strong> kann man registrieren, doch<br />
nicht exakt messen. Mit der wissenschaftlichen Revolution setzte sich demgegenüber<br />
die Vorstellung einer homogenen und sich immer und überall gleich bleibenden<br />
<strong>Natur</strong> durch, die sich daher unendlich unterteilen und exakt messen ließ und<br />
die es erlaubte, hier und jetzt experimentell erhobene Befunde zu verallgemeinern.<br />
In ihr kommt es der Forschung vor allem auf die rechten Methoden, Fragestellungen<br />
und Messinstrumente an. 37<br />
Der sammelnde Empirismus wurde auch noch nicht mit dem Begriff der Wissenschaft<br />
(scientia) bezeichnet. Scientia meinte ursprünglich ein der reinen Vernunft<br />
einsichtiges und insofern erfahrungsenthobenes Wissen wie das der Mathematik,<br />
Metaphysik oder Theologie. Dagegen brauchte man für Erfahrungswissen die Begriffe<br />
historia und prudentia; der diskreten Beschaffenheit der Außenwelt gemäß<br />
konnte man von seinen eigenen Erfahrungen mit dieser erzählen oder sie sich für<br />
die eigene Lebenspraxis anverwandeln. 38 Freilich brachte der Systemgedanke auch in<br />
solches Wissen einen Zusammenhang und damit etwas der scientia Vergleichbares<br />
herein und erhob damit die Empirie bis auf die Ebene der Vernunft. Am Ausgang<br />
der Frühen Neuzeit hat Georg Friedrich Wilhelm Hegel den Systemgedanken <strong>als</strong><br />
der westlichen Zivilisation eigentümlich hervorgehoben: „Der europäische Geist<br />
setzt die Welt sich gegenüber, macht sich von ihr frei, hebt aber diesen Gegensatz<br />
wieder auf, nimmt sein Anderes, das Mannigfaltige, in sich, in seine Einfachkeit<br />
zurück. Hier herrscht daher dieser unendliche Wissensdrang, der den anderen Rassen<br />
fremd ist. Den Europäer interessiert die Welt; er will sie erkennen, sich das ihm<br />
34 Z. B. Bacon, F.: Parasceve, Aph. 1, in: Spedding, J. et al. (Hg.); Advancement of Learning (The<br />
Works of Francis Bacon), 7 Bd., London 1857-61, Bd. 1, S. 395; Bd. 3, S. 333. – Die Metapher<br />
kommt aus Bacons juristischer Praxis, wo er die Folter <strong>als</strong> Beweismittel zwar ablehnt, aber für Nachforschungen<br />
in Fällen von Hochverrat empfiehlt. Vgl. dazu Martin, J.: Francis Bacon, the state and the<br />
reform of natural philosophy, Cambridge 1992, S. 82 f., 102, 153, 166, 201, 207, nn. 24 und 103-105.<br />
35 Vgl. Anm. 1 und 2.<br />
36 Vgl. dazu etwa das Sammelwerk von Grote: Microcosmos sowie Minges: Sammelwesen.<br />
37 Vgl. etwa Rossi, P.: Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa, München 1997.<br />
38 Vgl. Seifert, A.: Cognitio historica. Die Geschichte <strong>als</strong> Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie, Berlin<br />
1976.