Natur als Grenzerfahrung - Oapen
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Monika Gisler<br />
mentare zum <strong>Natur</strong>schauspiel der Alpen anlässlich einer 1671 unternommenen<br />
Reise in die Schweiz zeigen deutlich, dass er sich deren ästhetischer Wirkung nicht<br />
entziehen konnte. Indem er seine Bewunderung für alles Grossdimensionierte<br />
verbalisierte, spannte er bereits den Bogen zur Ästhetik des Erhabenen, die in der<br />
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts virulent wurde.<br />
Die Grösse und Unendlichkeit, die Burnet in den Gebirgen, Meeren und der<br />
endlosen Weite des Kosmos fand, waren genau diejenigen Eigenschaften, die<br />
Edmund Burke um die Mitte des 18. Jahrhunderts <strong>als</strong> wesentliche Charakteristika<br />
des Erhabenen definieren sollte. Und insbesondere Johann Jakob Scheuchzer, der<br />
gerne <strong>als</strong> Begründer der schweizerischen Gebirgsforschung bezeichnet wird, vermittelte<br />
in seinen Abhandlungen – unter anderem in Auseinandersetzung mit den<br />
Schriften Burnets 15 – eine positive Sicht der Bergwelt, die er <strong>als</strong> schön und nützlich<br />
beschrieb. In Brockes späterer dichterischer Umsetzung von Scheuchzers <strong>Natur</strong>historie<br />
(„Die Berge“) wird die Gebirgswelt gar <strong>als</strong> erhaben beschrieben. 16<br />
Die in der Renaissance aufgekommene, dabei aber noch vereinzelt gebliebene<br />
positive Beschreibung der Alpenwelt fand <strong>als</strong>o mit Scheuchzer eine allgemeine<br />
Verbreitung. Der Zürcher Mediziner und <strong>Natur</strong>forscher hatte es sich zur Lebensaufgabe<br />
gemacht, auf der Grundlage der Physikotheologie eine <strong>Natur</strong>-Historie des<br />
Schweitzerlandes zu erstellen. 17 Seine Einsichten zur Sintfluttheorie (Diluvial-<br />
Hypothese) und zum Ursprung von Fossilien gewann er in intensiver Auseinandersetzung<br />
mit englischen Zeitgenossen – dies hat Michael Kempe schön gezeigt.<br />
Auf zahlreichen Alpenwanderungen, bei denen sich Scheuchzer regelmässig den<br />
Strapazen und Gefahren einer noch weithin unzugänglichen <strong>Natur</strong> aussetzte,<br />
registrierte der <strong>Natur</strong>forscher zahlreiche Phänomene. Er stellte in seinen Schriften<br />
klar, dass Bergreisen weder gesundheitsgefährdend seien noch die Alpenbewohner<br />
ein durch und durch tristes Leben führten. Die Schweiz biete nicht nur ausreichend<br />
Nahrung für all ihre Bewohner, sondern vermöge gar ganz Europa mit<br />
Wasser, Wolken und Winden zu versorgen. Damit hätten selbst Eisgebirge und<br />
Gletscher einen wichtigen Platz in der Schöpfung, auch sie repräsentierten deren<br />
Vollkommenheit. Furchteinflössende Erscheinungen werden bei Scheuchzer umgedeutet<br />
und ins göttlich Vollkommene eingebunden, statt Schrecken hat sich<br />
15 Kempe, M.: Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die Sintfluttheorie,<br />
Tübingen 2003.<br />
16 Brockes, B. H.: Die Berge, in: Weiss, R.: Die Entdeckung der Alpen. Eine Sammlung schweizerischer<br />
und deutscher Alpenliteratur bis zum Jahr 1800, Frauenfeld / Leipzig 1934, S. 29-32; Zelle C.:<br />
‚Angenehmes Grauen‘, Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert,<br />
Hamburg 1987, S. 239–251; Hentschel: Mythos, S. 15–16; zu Scheuchzer <strong>als</strong> „wichtigstem Vermittler<br />
des Phänomens der Alpenlandschaft vor Albrecht von Haller“ auch Boerlin-Brodbeck: Entdeckung,<br />
S. 258.<br />
17 Scheuchzer, J. J.: <strong>Natur</strong>-Geschichte des Schweitzerlandes, samt seinen Reisen über die Schweitzerischen Gebürge,<br />
Hg. J. G. Sulzer, 2 Vol., Zürich 1746; Steiger, R.: Verzeichnis des wissenschaftlichen Nachlasses von Johann<br />
Jakob Scheuchzer (1672–1733). Im Auftrag der Zentralbibliothek bearbeitet, in: Vierteljahrsschrift der <strong>Natur</strong>forschenden<br />
Gesellschaft, Jg. 78, Zürich 1933, S. 1–75.