Natur als Grenzerfahrung - Oapen
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Klaus Bergdolt<br />
heißen Erdinnern nach außen drangen (ein solches Beben, mit Zerstörungen in<br />
vielen oberitalienischen Städten, vor allem im Veneto, ereignete sich z. B. am<br />
25. Januar 1348). 20 Die Stellung der antiken Autoritäten Hippokrates und Galen,<br />
aber auch einiger spätantiker und mittelalterlicher Epigonen war und blieb übermächtig.<br />
Während die Sonne am Morgen auf Wasser, Luft und Menschen klärend und<br />
reinigend wirkte, galt ihre Strahlung am Nachmittag und Abend <strong>als</strong> problematisch.<br />
Die Lage einer Polis nach Osten förderte die Gesundheit, die Ausrichtung nach<br />
Westen galt <strong>als</strong> ungesund, 21 wobei die Hafenstädte der Westküste Kleinasiens <strong>als</strong><br />
Ausnahmen gesehen wurden. 22 Am gesündesten erschien der Ort, wo die Klima-<br />
Qualitäten (kalt, warm, feucht und trocken) ausgeglichen waren. Hier war zu erwarten,<br />
dass auch die Körpersäfte im Lot blieben. Ihre Verschiebung in jedweder<br />
Richtung erschien problematisch: Ein Überschuß an Kälte und Trockenheit vermindert<br />
zwar, so die logische, aus der Viersäftelehre abgeleitete Konsequenz, die<br />
Wahrscheinlichkeit einer Fäulnis der inneren Organe und damit einer Pestinfektion,<br />
fördert dafür aber melancholische Neigungen und Depressionen, die<br />
ihrerseits in schwülen und heißen Gebieten seltener vorkommen. Melancholiker<br />
litten nämlich, so lehrten es die „Schulmedizin“, aber auch noch zahlreiche Philosophen<br />
der Renaissance, 23 an einem Überfluss an „kalter und trockener“ schwarzer<br />
Galle (μέλαινα χολή), d. h. sie wiesen ein Defizit an Hitze und Feuchtigkeit auf und<br />
waren somit gegen mögliche Ansteckungen relativ immun. 24 Da unter den Jahreszeiten<br />
der Herbst <strong>als</strong> kalt und trocken gilt, fördert er nach der Temperamentenlehre<br />
die Melancholie, ganz im Gegensatz zum heißen und feuchten Frühjahr, das<br />
stets pestgefährdet ist. 25 Ärztliche Aufgabe war es dabei, nicht nur Krankheiten zu<br />
heilen, sondern auch prophylaktische Ratschläge zu geben. 26 Sie bestanden vor<br />
allem in Empfehlungen, ein gesundes Ambiente anzustreben und Orte bzw.<br />
Klimazonen zu meiden, wo bestimmte Krankheiten häufig zu beobachten waren.<br />
Auch die Wahl der Speisen und Getränke, der gymnastischen Übungen und des<br />
individuellen Tagesablaufs hatten aus ärztlicher Sicht vor allem das Ziel, einen<br />
ausgeglichenen Zustand der Säfte des Körpers zu erreichen. Daß das salutogene<br />
Kozept der Mitte und des Ausgleichs auch philosophische Wurzeln hatte, sei hier nur<br />
20 Vgl. Bergdolt, K. (Hg.): Die Pest 1348 in Italien. 50 zeitgenössische Quellen, mit einem Nachwort von<br />
G. Keil, Heidelberg 1989, hier S. 122 f. (Inschrift der Scuola della Carità).<br />
21 Diller: Hippokrates, S. 133 (Die Umwelt).<br />
22 Diller: Hippokrates S. 126 f. (Einleitung zu „Die Umwelt“).<br />
23 Klibanski, R. / Panofsky, E. / Saxl, F.: Saturn und Melancholie. Studien zu Geschichte der <strong>Natur</strong>philosophie<br />
und Medizin, der Religion und der Kunst, übersetzt von C. Buschendorf, Frankfurt am Main 1990,<br />
S. 194 f..<br />
24 Klibanski / Panofsky / Saxl: Saturn, besonders S. 136-165.<br />
25 Hierzu Schipperges, H.: Melancholia, in: Gerabek, W. E. u. a. (Hg.): Enzyklopädie der Medizingeschichte,<br />
Berlin / New York 2005, S. 964-967, hier S. 96.<br />
26 Vgl. hierzu die hippokratische Empfehlung „Der Arzt soll sagen, was vorher war, erkennen, was<br />
gegenwärtig ist, voraussagen, was zukünftig sein wird“, Diller: Hippokrates, S. 25.