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Natur als Grenzerfahrung - Oapen

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Sammelnde Wissenschaft<br />

ein zusammenhängender Text betrachtet, den Gott für den Menschen „geschrieben“<br />

hatte. Hans Blumenberg nennt diese Denkfigur eine „Metapher für das Ganze<br />

der Erfahrbarkeit“. 12 Sie wurzelte in der Spätantike. Augustinus – vor seiner<br />

Konversion Professor der Rhetorik – hatte der Heiligen Schrift die gesamte Welt<br />

(orbis terrarum) <strong>als</strong> eine zweite Offenbarung Gottes zur Seite gestellt, in der auch der<br />

Schriftunkundige (idiota) „lesen“ könne. 13 Während des Mittelalters war die Bestätigung<br />

der Schrift durch die Welt ein Predigtthema gewesen, an dem sich die Zuhörer<br />

erbauen konnten. 14 Doch am Ausgange des Mittelalters begannen die Laien das<br />

Buch der Welt auch selbstständig zu lesen. Sie konnten zweierlei darin finden: den<br />

Inhalt selbst und die hineinverstreuten Rückverweise auf den Großen Autor. 15<br />

Diese „Lektüre“ ließ sich <strong>als</strong> eine den Gottesdienst ergänzende – manchmal freilich<br />

auch ersetzende – Form der Frömmigkeit verstehen. 16 Sie implizierte zum<br />

ersten das Verständnis Gottes <strong>als</strong> Autor, das heißt <strong>als</strong> Schöpfer und nicht bloß<br />

Gestalter und Beherrscher der Welt, zum zweiten die Einheit und Sinnhaftigkeit<br />

des von ihm geschriebenen Textes, zum dritten dessen Charakter <strong>als</strong> eine an den<br />

Menschen gerichtete Botschaft, und zum vierten die in dieses Geschöpf gelegte<br />

Gabe, die Schöpfung und den Schöpfer zu verstehen.<br />

Die sammelnde Wissenschaft des Humanismus suchte die über die Welt verstreuten<br />

Hinweise Gottes aufzuspüren, miteinander zu verbinden und damit für<br />

die Menschheit fruchtbar zu machen. Dieses Forschungsprogramm schloss alles in<br />

der Welt ein und nichts aus, nicht einmal das verborgene Wissen. Gerade daraus<br />

sollten sich dann „Asymmetrien“ zwischen den beiden Büchern und Konflikte<br />

zwischen deren Lesern ergeben. 17 Der Universalismus dieses Programmes hatte<br />

nämlich auch eine aktivistische eschatologische Komponente, die über die bloße<br />

Frömmigkeit hinausging: Das von der Bibel angekündigte messianische Zukunftsreich<br />

sollte nicht abgewartet, sondern herbeigeführt werden. Durch das Sammeln<br />

der göttlichen Spuren und Lesbarmachen des Okkulten sollte die aus dem Paradiese<br />

vertriebene, der babylonischen Sprachverwirrung anheimgefallene Menschheit<br />

wieder in ihren glücklichen Urzustand eingesetzt werden. Dann würden die Menschen<br />

bessere oder überhaupt erst Christen werden, der Sündenfall wäre wieder<br />

gutgemacht und das Erlösungswerk Christi abgeschlossen. Daher waren mit der<br />

sammelnden Wissenschaft auch Programme für die Verbesserung des irdischen<br />

12 Blumenberg, H.: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1986, S. 9-16.<br />

13 „Liber tibi sit pagina divina, ut haec [Gottes Allmacht, J.St.] audias; liber tibi sit orbis terrarum, ut haec videas.<br />

In istis codicibus non ea legunt, nisi qui literas noverunt; in toto nundo legat et idiota“ (Augustinus, Enarratio in<br />

Psalmum XLV 6-7, zit. n. Blumenberg: Lesbarkeit, S. 49; vgl. auch Jorink: Boeck, S. 39. Im „Gottesstaat“,<br />

im Zusammenhang seiner Rechtfertigung der Ewigkeit der Höllenstrafen aus Gottes Allmacht,<br />

führt Augustinus diesen Topos weiter aus (De civ. Dei XXI, Kap. 8).<br />

14 Curtius, E. R.: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern / München 81973, Kap. 16,<br />

S. 306-352.<br />

15 Blumenberg: Lesbarkeit, S. 60.<br />

16 Jorink: Boeck, S. 111-113.<br />

17 Blumenberg: Lesbarkeit, S. 71-85 und 86-107.<br />

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