Natur als Grenzerfahrung - Oapen
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Die Katastrophe <strong>als</strong> darstellerisch-ästhetisches Ereignis<br />
Der Bergsturz von Goldau im Kanton Schwyz im Jahre 1806 löste eine beispiellose<br />
Hilfsbereitschaft in der nach dem Zusammenbruch der Helvetischen<br />
Republik wieder föderalistischer regierten Schweiz aus. Nach einem Aufruf des<br />
damaligen Landammanns der Schweiz, dem Basler Bürgermeister Andreas Merian,<br />
kamen erstm<strong>als</strong> in der Geschichte der Eidgenossenschaft sämtliche Kantone einem<br />
einzelnen Kanton finanziell zu Hilfe. Ausserdem entsandten verschiedene Kantone<br />
monatelang Hunderte von Arbeitern, um Hilfe vor Ort zu leisten. 2<br />
Dies war die eine Seite des Ereignisses. Im folgenden Beitrag soll jedoch ein<br />
ganz spezifischer Aspekt näher beleuchtet werden. Es wird der Frage nachgegangen,<br />
welche Faktoren dazu geführt haben, dass die Katastrophe vom Rossberg<br />
gleichermassen <strong>als</strong> dramatisches wie auch <strong>als</strong> ästhetisch grossartiges, ja <strong>als</strong><br />
fantastisches Ereignis wahrgenommen bzw. dargestellt wurde. Die Nachricht über<br />
das Geschehen am Rossberg war in aller Munde. Zeitungen, Predigten, Flugblätter<br />
und Flugschriften berichteten ausführlich darüber. 3 Des Weiteren beschäftigten<br />
sich Forscher in wissenschaftlichen Untersuchungen mit der Thematik. Dies war<br />
im Grunde nichts Neues, das Besondere war vielmehr, dass die bildlichen Darstellungen<br />
des Bergsturzes in diesen Publikationen beim Publikum – das sich wohl<br />
durch alle Schichten hindurchzog – ausserordentlich begehrt waren. Diese Darstellungen<br />
waren unmittelbar im Anschluss an das Ereignis entstanden. Zeichner und<br />
Maler waren in die verschüttete Gegend gereist, um vor Ort den Schrecken auf die<br />
Leinwand zu bannen. Denn mit dem erwachenden Interesse an der Alpenwelt war<br />
es gang und gäbe, dass sich nicht nur Wissenschafter und Gelehrte, sondern auch<br />
Künstler ins Hochgebirge wagten, um dort vor Ort zu zeichnen.<br />
Mein Interesse gilt im Folgenden <strong>als</strong>o der Frage, welche Gründe dafür verantwortlich<br />
gemacht werden können, dass in der Schweiz um 1800 eine <strong>Natur</strong>katastrophe<br />
eine derartige Aufmerksamkeit erregen konnte, war sie doch weder die<br />
erste noch die dramatischste ihrer Zeit. Im Bleniotal hatten 1514 mehr Menschen,<br />
nämlich rund 600, ihr Leben verloren, <strong>als</strong> ein See, der sich zwei Jahre zuvor im<br />
Zuge eines Bergsturzes gebildet hatte, gewaltvoll über die Ufer trat. 4 Das Erdbeben<br />
vom Dezember 1755 in der südlichen Schweiz hatte zwar keine Tote gefordert, das<br />
Zerstörungsgebiet an sich jedoch war unvergleichlich grösser. Und im April 1805 –<br />
<strong>als</strong>o nur ein gutes Jahr vor dem Bergsturz von Goldau – wurde die freiburgische<br />
Stadt Bulle durch eine gewaltige Feuersbrunst fast vollständig in Schutt und Asche<br />
2 Zehnder: Goldauer Bergsturz, S. 83–95; Fässler: Hilfsmassnahmen; Fässler, A.: Geburt der gesamteidgenössischen<br />
Solidarität. Die Hilfeleistungen zur Bewältigung des Bergsturzes von Goldau 1806, in: Pfister, C. (Hg.):<br />
Am Tag danach. Zur Bewältigung von <strong>Natur</strong>katastrophen in der Schweiz 1500-2000, Bern 2002,<br />
S. 55–68; Pfister C.: <strong>Natur</strong>katastrophen <strong>als</strong> nationale Mobilisierungsereignisse in der Schweiz des 19. Jahrhunderts,<br />
in: Groh, D. / Kempe, M. / Mauelshagen, F. (Hg.): <strong>Natur</strong>katastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung,<br />
Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Tübingen<br />
2003, S. 283–297.<br />
3 Ausführliche Angaben in Zehnder: Goldauer Bergsturz.<br />
4 Heim: Bergsturz.<br />
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