Natur als Grenzerfahrung - Oapen
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Seuchentheorie und Umwelt in der Frühen Neuzeit<br />
gewesen. 41 Bereits 1374 wurden in Reggio d`Emilia verdächtige Reisende zehn<br />
Tage isoliert, und seit 1377 gab es in Ragusa (heute Dubrovnik) die Tradition, Reisende,<br />
Seeleute und Schiffe, die aus verpesteten Häfen kamen, 30 Tage unter Beobachtung<br />
zu stellen, eine Frist, die später (1383/84) in Marseille auf 40 (italienisch<br />
quaranta) Tage erweitert und von vielen Hafenstädten, etwa 1403 von Venedig,<br />
übernommen wurde. 42 Solche Vorsichtsmaßnahmen, der Alptraum der Kaufleute<br />
und des Handels über Jahrhunderte, basierten auf Pragmatik und kühler Beobachtung<br />
der Behörden und widersprachen in gewissem Sinn der Miasmenlehre, da die<br />
Luftqualität diesseits und jenseits der Lazarettmauern kaum unterschiedlich gewesen<br />
sein dürfte. Die Quarantäne, d. h. die passagere Isolierung von Reisenden aus<br />
infizierten Städten und Häfen, wurde bis ins 19. Jahrhundert beibehalten. 43 Kaum<br />
einem Arzt schien es aufzufallen, dass jemand, dem es gelang, sich innerhalb einer<br />
Stadt von seinen infizierten Mitbürgern abzusondern, nach der hippokratischen<br />
Theorie dennoch mit großer Wahrscheinlichkeit hätte erkranken müssen, da er<br />
denselben Miasmen ausgesetzt blieb.<br />
Die meisten Mediziner respektierten so, allen Zweifeln Tomitanos zum Trotz,<br />
das traditionelle Seuchenmodell, wobei allerdings bis zum 17. Jahrhundert –<br />
Fracastoros genialer Hinweis blieb die Ausnahme 44 – die technischen Voraussetzungen<br />
fehlten, den Erreger der Pest und anderer Seuchen optisch oder auf sonstige<br />
Weise zu identifizieren. Noch im 17. Jahrhundert stand der Jesuitenpater Athanasius<br />
Kircher mit seiner genialen Idee vom contagium vivum weitgehend allein, 45<br />
und selbst 1720 kam es während der Pest von Marseille noch zu einem Streit<br />
zwischen der örtlichen Ärzteschaft, die diese These unterstützte, und den Theoretikern<br />
der medizinischen Fakultät, die am humoralpathologischen Gedanken festhielten.<br />
46 Man wundert sich dennoch, dass die Skepsis Tomitanos nicht Schule<br />
machte. Jedermann hätte seine Beobachtung bestätigen können. Vielmehr erklärte<br />
sein Paduaner Professorenkollege Niccolò Massa, der freilich Mitglied der Medizinischen<br />
Fakultät war, im wahrsten Sinn des Wortes ex cathedra die Pest von 1555 <strong>als</strong><br />
typische Konsequenz einer Luftverdorbenheit, wie sie von Galen beschrieben<br />
worden war. Immerhin forderte er, dass eine auf Grund ihrer topographischen<br />
Lage so gefährdete Stadt wie Venedig regelmäßig gesäubert werden müsse, damit<br />
41 Diese Fragen stellte Tomitano in seinem Traktat Consiglio sopra la peste dell`anno 1576, vgl.<br />
Zitelli / Palmer: Venezia, S. 26.<br />
42 Keil, G.: Quarantäne, in: Gerabek, W. E. u. a. (Hg.): Enzyklopädie der Medizingeschichte,<br />
Berlin / New York 2005, S. 1208.<br />
43 Hierzu ausführlich Kupferschmidt, H.: Die Epidemiologie der Pest. Der Konzeptwandel in der Erforschung<br />
der Infektionsketten seit der Entdeckung des Pesterregers im Jahre 1894 (=Gesnerus Supplement 43), Aarau<br />
1993, besonders S. 142 f..<br />
44 Leven: Infektionskrankheiten, S. 36-38.<br />
45 Zu Kircher vgl. ausführlich Leven: Infektionskrankheiten, S. 65-67.<br />
46 Leven: Infektionskrankheiten, S. 34.<br />
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