08.12.2012 Aufrufe

Natur als Grenzerfahrung - Oapen

Natur als Grenzerfahrung - Oapen

Natur als Grenzerfahrung - Oapen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Die Katastrophe <strong>als</strong> darstellerisch-ästhetisches Ereignis<br />

Freude und Andacht einzustellen. Das Wunderwerk der <strong>Natur</strong> wurde in physikotheologischer<br />

Umdeutung zum Beweis für die Existenz Gottes beigezogen.<br />

Wurde die <strong>Natur</strong> <strong>als</strong> geordnetes System und <strong>als</strong> Widerspiegelung der Allmacht<br />

Gottes begriffen, so blieb kein Platz mehr für negative Gefühle, denn die tief<br />

sitzende Furcht vor der Wildnis war mit dem Bild eines guten und weisen Schöpfergottes<br />

unvereinbar. 18 Solche Vorstellungen eines göttlichen Künstlers haben<br />

sich in der Folge nachhaltig <strong>als</strong> wirksame Topoi etabliert, die lange den Blick auf<br />

die <strong>Natur</strong> prägten und dem propagierten Bild der Verschmelzung von Individuum<br />

und <strong>Natur</strong>, das dann im 19. Jahrhundert von zentraler Bedeutung wurde, den Boden<br />

bereitet. 19 Mit seinen Arbeiten hat Scheuchzer somit die Voraussetzungen für<br />

einen Paradigmenwechsel geschaffen. Die literarischen Werke von Haller, Rousseau<br />

und anderen konnten auf dieser Neubewertung der Alpen aufbauen, sie haben<br />

etwa die Wahrnehmung von deutschen Schweiz-Reisenden – dies hat Uwe Hentschel<br />

sehr schön gezeigt – nachhaltig geprägt.<br />

Auslöser für die veränderte ästhetische Wahrnehmung der Alpenlandschaft<br />

war diejenige Literatur, die sich auf die wissenschaftliche Erforschung der Erdgeschichte<br />

stützte. Dieses wissenschaftliche Interesse etablierte sich zunächst in England,<br />

später aber auch in der Schweiz selbst. Hier wurde das grosse und episch<br />

breite Gedicht Albrecht von Hallers Die Alpen aus dem Jahre 1729 ein grosser<br />

literarischer Erfolg, der mit jeder neuen Auflage noch wuchs und nach der Jahrhundertmitte<br />

ganz Europa erreichte. Die Gedichtform war dabei der wissenschaftlichen<br />

Neugier keineswegs nachteilig. Haller hatte dieses Gedicht mit zwanzig Jahren,<br />

nach seinen Studien im Ausland, verfasst. Der Grund seiner Reise waren<br />

botanische Untersuchungen gewesen, das Ergebnis wurde nicht <strong>als</strong> wissenschaftlicher<br />

Bericht, sondern in Form dieses Lehrstücks vorgelegt. Das Gedicht erschöpft<br />

sich dabei keineswegs in der poetischen Repetition von Scheuchzers <strong>Natur</strong>beschreibungen<br />

– obwohl sich durchaus Anlehnungen finden. Vielmehr diente<br />

es der Orientierungshilfe, dank welcher dem sittlichen Verfall der eigenen Sozietät<br />

begegnet werden sollte. In konsequenter Abgrenzung zum städtisch-höfischen<br />

Laster beschwörte Haller eine Idylle herauf, die glaubhaft machen sollte, dass die<br />

Menschen der Alpen glücklich seien. 20<br />

3 Welt <strong>als</strong> Ruine – Schönheit der Alpen<br />

Die bei Haller beschriebene Schönheit der Alpen hatte noch ein anderer erkannt,<br />

der zu Unrecht in Vergessenheit geratene Schweizer <strong>Natur</strong>forscher Elie Bertrand<br />

18 Kempe: Scheuchzer; Gisler, M.: Göttliche <strong>Natur</strong>? Formationen im Erdbebendiskurs der Schweiz des<br />

18. Jahrhunderts, Zürich 2007, S. 35–65.<br />

19 Dirlinger: Buch, S. 156–185.<br />

20 Zelle: Grauen, S. 251–260; Groh / Groh: Entstehung, S. 95–96, 119–121; Hentschel: Mythos,<br />

S. 17–23.<br />

287

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!