Natur als Grenzerfahrung - Oapen
Natur als Grenzerfahrung - Oapen
Natur als Grenzerfahrung - Oapen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
226<br />
Klaus Bergdolt<br />
hen vom Aderlass und bestimmten Diäten, welche das „heiße und feuchte“ Blut<br />
reduzieren sollten, empfahlen die Ärzte immer wieder auch Orts- bzw. Klimawechsel;<br />
die jeweils trockenere und kühlere Gegend galt im Zweifelsfall <strong>als</strong> gesünder<br />
und die Langlebigkeit fördernd. Leibesübungen, wie sie der Arzt Valescus von<br />
Taranta (gest. 1418) nahelegte, sollten über die erwünschte Schweißabsonderung<br />
die feuchte Hitze des Körpers vermindern. 35. Da warme Luft nach oben steigt,<br />
sollten Pestkranke „an einen hochgelegenen Ort im Zimmer gebracht werden,<br />
damit sie „über den Köpfen der Pfleger“ lagen. 36 Der Tübinger Arzt und Botaniker<br />
Leonhart Fuchs (gest. 1566) plädierte aus demselben Grund dafür, die Gymnastikräume<br />
zusätzlich durch Duftstoffe und Räucherung zu reinigen. Körperliche Anstrengungen<br />
inklusive des Geschlechtsverkehrs galten solchen Ärzten, da sie nach<br />
Galen die „innere Hitze“ förderten, <strong>als</strong> risikobehaftet. 37<br />
Man muss sich klar darüber sein, dass es bis zum 16. Jahrhundert, von vagen<br />
Spekulationen der römischen Autoren Varro (1. Jh. n. Chr.) und Columella<br />
(1. Jh. n. Chr.) über krankmachende animalia quaedam minuta (winzige Tierchen)<br />
bzw. bestiolae (kleine Tiere), die aus Sümpfen emporstiegen, abgesehen, keine eindeutigen<br />
Hinweise darauf gab, dass Mikroben die Pest hervorrufen könnten. 38<br />
Allerdings stellte zur Mitte des 16. Jahrhunderts der Paduaner Philosoph<br />
Bernardino Tomitano die Frage, wie es möglich sei, dass bei allgemeiner Luftverpestung,<br />
d. h. unter demselben miasmenreichen Himmel, eine Stadt von der Pest<br />
verschont bleibe, während eine benachbarte auf das grausamste heimgesucht werde.<br />
Dies war eine Kritik am gesamten hippokratischen System. 39 So logisch und<br />
berechtigt sie war, die meisten Ärzte und Medizinprofessoren negierten sie. Einige<br />
calvinistische Theologen sahen in der Tatsache, dass schwülen Wetterperioden oft<br />
keine Pest folgte und häufig Seuchen ausbrachen, ohne dass sie humoralpathologisch<br />
erklärbar schienen (etwa bei kühlem Wetter und klarem Himmel!), eine Bestätigung<br />
der Prädestinationslehre, dass Gott allein die Pest schicke, wobei er nicht auf die<br />
von den Ärzten herausgestellten „naturwissenschaftlichen“ Begleitumstände und<br />
Bedingungen angewiesen sei. 40<br />
Die scharfe Beobachtung Tomitanos musste dennoch beunruhigen. Nach der<br />
Theorie der aria corrotta hätten sich die Venezianer niem<strong>als</strong>, wie es seit Jahrhunderten<br />
üblich war, auf Inseln inmitten der sumpfigen Lagune retten können, noch<br />
wären das seit Ende des 14. Jahrhunderts entwickelte Quarantänesystem und die<br />
Zwangsisolierung der manifest Erkrankten auf bestimmten Inseln so erfolgreich<br />
35 Bergdolt: Pest, S. 28.<br />
36 Bergdolt: Pest 1348, S. 154 f..<br />
37 Bergdolt: Pest, S. 28.<br />
38 Leven: Infektionskrankheiten, S. 23.<br />
39 Zitelli / Palmer: Venezia, S. 26.<br />
40 Vgl. Lang, M.: Der Vrsprung aber der Pestilentz ist nicht natürlich, sondern übernatürlich. Medizinische und<br />
theologische Erklärung der Seuche im Spiegel protestantischer Pestschriften, in: Ulbricht, O. (Hg.): Die leidige<br />
Seuche. Pest-Fälle in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2004, S. 133-180.