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Natur als Grenzerfahrung - Oapen

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Seuchentheorie und Umwelt in der Frühen Neuzeit<br />

unter dem Druck der Regierung der krassen Fehleinschätzung der Lage durch zwei<br />

aus Padua zugezogene Medizinkoryphäen, welche die Pest vehement bestritten. In<br />

Gegenwart des Dogen fand im Juni 1576 eine medizinische Disputation statt, bei<br />

der die Professoren Girolamo Mercuriale und Girolamo Capodivacca ihre These<br />

verteidigten, es handle sich nicht um die Pest, wenn auch um eine harmlose infektiöse<br />

Seuche. Vor allem gäbe es keine Hinweise auf schädliche Miasmen. Beide<br />

erklärten sich demonstrativ bereit, Kranke zu besuchen. Jedermann durfte sich in<br />

der Stadt wieder frei bewegen, die Kennzeichnung von Häusern, wo Infizierte<br />

wohnten, wurde aufgehoben. Der Irrtum der beiden wurde allerdings von Tag zu<br />

Tag offenkundiger. Als Hunderte täglich starben, baten sie, von ihren Aufgaben<br />

entbunden zu werden. 54 Die Frage drängt sich auf, warum die Stadtregierungen<br />

angesichts der Tradition der Hilflosigkeit und Unflexibilität überhaupt medizinische<br />

Koryphäen zu Rate zogen. Hierfür gab es mehrere Gründe. Einmal lässt<br />

sich das damalige Renommee antiker Autoritäten heute kaum noch ermessen. Zu<br />

ihnen gehörten in der Medizin nicht nur Hippokrates und Galen, die den Nimbus<br />

der Medizin begründet hatten und <strong>als</strong> beste Ärzte aller Zeiten galten, sondern auch<br />

Aristoteles <strong>als</strong> Philosoph und <strong>Natur</strong>forscher, Theophrast (um 300 v. Chr.) <strong>als</strong><br />

Botaniker, Soranos und Rufos von Ephesus (beide um 100 n. Chr.) sowie Caelius<br />

Aurelianus (um 400 n. Chr.) <strong>als</strong> Ärzte sowie der legendäre, wohl im 2. Jahrhundert<br />

entstandene Physiologus, dessen Buch über die Tierwelt sich vor allem aus Fabeln<br />

und alten Symboliken speiste. 55<br />

Zunehmend persönlich und beruflich mit der Oberschicht verbunden, versuchten<br />

viele Mediziner zudem, im Moment der Gefahr deren Sorgen und Sichtweisen<br />

zu teilen und eine durch die Seuche drohende Staatskrise durch harmlosere<br />

Diagnosen zu verschleiern. Das weiche Kriterium der Beurteilung von Luft und<br />

Umwelt bot da viele Interpretationsmöglichkeiten. 56<br />

Die „offizielle“ Respektierung ärztlicher Ratschläge stand häufig im Gegensatz<br />

zum praktischen Vorgehen der Gesundheitsbehörden. Insofern war die Anekdote von<br />

1576 eine gewisse Ausnahme. In der Pestgeschichte lässt sich seit dem 14. Jahrhundert<br />

jedenfalls ein zunehmender Einfluss dieser Gremien aufzeigen. Ad hoc zu<br />

Gesundheitskontrolleuren ernannte Laien (seltener Ärzte) ergriffen in Venedig und<br />

einigen toskanischen Städten bereits 1348, in den ersten Wochen der Seuche, energisch<br />

Isolierungsmaßnahmen. Nicht die Theorie der Schulmedizin, sondern<br />

praktische Erfahrung und ein Stück gesunder Menschenverstand bestimmten ihr<br />

Vorgehen. 57 In Florenz hatte man glücklicherweise bereits 1321 die Statuti sanitari<br />

54 Der Fall wurde erstm<strong>als</strong> ausführlich dargestellt bei Rodenwaldt, E.: Pest in Venedig 1575-1577. Ein<br />

Beitrag zur Frage der Infektkette bei den Pestepidemien Westeuropas, Heidelberg 1953.<br />

55 Vgl. Anon.: Der Physiologus, übertragen und erläutert von Otto Seel, Zürich / München 31976.<br />

56 Zur mittelalterlichen Medizin mit ihrer Akzentuierung der Autoritäten vgl. Jankrift, K. P.: Mit Gott<br />

und Schwarzer Magie: Medizin im Mittelalter, Darmstadt 2005; ferner Imbault-Huart, M. J. (Hg.): La<br />

Médecine au Moyen Age è travers les manuscrits de la Bibliothèque Nationale, Paris 1983, besonders S. 13-15.<br />

57 Bergdolt, K.: Pest, Stadt, Wissenschaft – Wechselwirkungen in oberitalienischen Städten vom 14. bis 17. Jahrhundert,<br />

in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 15, 1992, S. 201-211.<br />

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