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Natur als Grenzerfahrung - Oapen

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Klaus Bergdolt<br />

festgelegt, die im Seuchenfall die Kontrolle der Lebensmittelbeschaffung, der<br />

Trinkwasserversorgung und der Beerdigung der Toten sowie die Verteilung von<br />

Hilfsämtern regelten, <strong>als</strong>o eine Art Notstandsgesetzgebung auf dem Gesundheitssektor<br />

dar-stellten. Ähnliche Gesetze und Gesundheitsbeamte lassen sich bis zum<br />

17. Jahrhundert in den meisten großen europäischen Kommunen nachweisen. 58<br />

Während die Mailänder Seuchengesetzgebung des Bernabeo Visconti (1374)<br />

einen starken, auf alter Erfahrung aufbauenden Pragmatismus der Behörden verriet,<br />

griffen die Stadtherren in der Folgezeit immer wieder auch auf ärztliche Ratgeber<br />

zurück. Wenn der Visconti die öffentlichen Bäder mit ihren heißfeuchten<br />

Dämpfen schließen ließ, entsprach dies zwar dem Rat seines Leibarztes Cardos<br />

(„balneis communibus est abstinendum“), allerdings ebenso den Erfahrungen<br />

seiner Behörden. 59 Vom französischen König um eine Stellungsnahme gebeten,<br />

einigte sich die Medizinische Fakultät von Paris 1348, in Anlehnung an ein älteres<br />

Gutachten des erwähnten Gentile da Foligno darauf, dass die Konstellation der<br />

drei oberen Planeten Mars, Jupiter und Saturn für die Katastrophe von 1348 verantwortlich<br />

war, ferner eine Verdorbenheit der Luft, welche wie ein fauliger Apfel<br />

den anderen die Organe des Menschen – durch Einatmung oder Konsumierung<br />

verdorbener Speisen – zerstöre. 60 Der Aderlass wurde ebenso empfohlen wie alte<br />

Wundermittel, etwas der Theriak und Mithridat, die Bibernelle oder der sagenumwobene<br />

Bezoarstein. Einleuchtend erschien auch die simple Mahnung zur Flucht. 61<br />

Giangaleazzo Visconti, einer der Nachfolger Bernabeos, reagierte dagegen um<br />

1400 wieder mit militärischer Strenge: Er ließ Mailand bei den ersten Verdachtsmomenten<br />

in Nachbarstädten hermetisch abriegeln. Diese Maßnahme zählte, nicht<br />

die Theorie der Luftverpestung, die beidseits der Stadtmauern dieselbe gewesen<br />

sein dürfte. Dabei hatte die Stadt, wie Petrarca (1304-1374) versichert hatte, „eine<br />

gesunde Luft und ein angenehmes Klima und sich zudem für die Masse der Einwohner<br />

bis zu dieser Pest ihre Heiterkeit und Ruhe bewahrt“. Dennoch soll sie<br />

sich, so derselbe Autor, im Pestjahr 1361 in einen „düsteren, menschenleeren Ort“<br />

verwandelt haben. 62<br />

Doch auch im 19. Jahrhundert galt es, bevor Alexandre Yersin 1894 in Hongkong<br />

den Erreger der Pest entdeckte, 63 <strong>als</strong> ausgemacht, dass Pestausbrüche wie die<br />

Infektiosität der Seuche mit dem Zustand der Umwelt zu tun haben. Pettenkofers<br />

„Bodentheorie“ spielte hier, wenn auch auf die Cholera gemünzt, eine wichtige<br />

58 Bergdolt: Pest, S. 33.<br />

59 Ebd..<br />

60 Zum Pariser Pestgutachten vgl. Keil, G.: Seuchenzüge des Mittelalters, in: Herrmann, B. (Hg.): Mensch<br />

und Umwelt im Mittelalter, Stuttgart 1989, S. 109-128, hier S. 116.<br />

61 Bergdolt, K.: Pest, in: Gerabek, W. E. u. a. (Hg.): Enzyklopädie der Medizingeschichte,<br />

Berlin / New York 2005, S. 1122-1127, S. 1124.<br />

62 Vgl. Bergdolt: Pest, S. 34.<br />

63 Zu Yersin Winkle, S.: Geißeln der Menschheit. Kulturgeschichte der Seuchen, Düsseldorf 32005, S. 56-551.

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