Natur als Grenzerfahrung - Oapen
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Klaus Bergdolt<br />
und Tier. Es gibt so Krankheiten des Frühjahrs, des Sommers, des Herbstes und<br />
des Winters. 4 Ebenso bestimmt die Qualität des Trinkwassers, sei es aus Quellen<br />
oder Zisternen (Regenwasser galt in der Antike <strong>als</strong> das „leichteste, süßeste, reinste<br />
und klarste Wasser“ 5), den Verlauf der Erkrankungen. 6 Im Buch Über die Umwelt<br />
werden Asien und Europa hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile für Körper und<br />
Geist verglichen. Wenn im hochgelobten „Asien“ nicht nur die Gesundheit der<br />
Bewohner, sondern auch deren Moral den Europäern überlegen erscheint, liegt die<br />
Ursache aus hippokratischer Sicht wiederum in der „richtigen Mischung des Klimas“,<br />
weil Asien weiter „nach Osten“ liegt, wo die Sonne herkommt, aber auch<br />
„weiter entfernt von der kalten Region“. 7 Nur im psychologischen Bereich entfernen<br />
sich manche Autoren, darunter Herodot, vom hippokratischen Schematismus:<br />
Ein ausgeglichenes Klima, das rein physiologisch erstrebenswert erscheint, macht<br />
Menschen auch träge und feige und lähmt die Widerstandskraft gegen Despotien,<br />
während ein hartes, unausgeglichenes Klima Fleiß, Tapferkeit und Freiheitsliebe<br />
fördert. 8<br />
Die antike Vorstellung, dass Gesundheit und Befindlichkeit des Menschen<br />
primär von seiner Umwelt abhängen, blieb dank der nachhaltigen Rezeption des<br />
Schrifttums Galens, 9 der die hippokratischen Gedanken im 2. nachchristlichen<br />
Jahrhundert modifizierend zusammenfasste und im Mittelalter wie in der Renaissance<br />
<strong>als</strong> nahezu unangreifbare Autorität galt, in der späteren europäischen Medizin<br />
von zentraler Bedeutung. 10 An den medizinischen Fakultäten lehrte man noch<br />
im 16. und 17. Jahrhundert, dass Südwinde warm und feucht sind, Schwüle produzieren<br />
und vor allem für junge und alte Menschen, deren Abwehr noch schwach<br />
oder wieder geschwächt ist, eine Gefahr darstellen. 11 Ihr pathogener Effekt wird<br />
durch Süd- und Westlagen von Meeresbuchten und Tälern verstärkt, wo sich die<br />
Mittags- und Abendhitze staut. Im ersten Buch der Epidemien, das die Medizinstudenten<br />
der Renaissance interpretieren mussten, findet sich u. a. eine Untersuchung<br />
des Klimas der Inselstadt Thasos (in der nördlichen Ägäis) und der Krankheitsdispositionen<br />
ihrer Bewohner inklusive einer Auflistung charakteristischer Kasuisti-<br />
4 Diller: Hippokrates, S. 16-20 (Epidemien I).<br />
5 Diller: Hippokrates, S. 137 (Die Umwelt).<br />
6 Diller: Hippokrates, S. 139-141 (Die Umwelt).<br />
7 Diller: Hippokrates, S. 145 (Die Umwelt).<br />
8 Hierzu Diller: Hippokrates, S. 127 (Vorwort zu „Die Umwelt“).<br />
9 Zum umfassenden Schrifttum Galens vgl. Fichtner, G.: Corpus Galenicum. Verzeichnis der galenischen<br />
und pseudogalenischen Schriften, Tübingen 1987.<br />
10 Leven, K. H.: Die Geschichte der Infektionskrankheiten. Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Landsberg<br />
/Lech 1997, S. 38.<br />
11 Vgl. etwa zu Bologna Bernabeo, R. A.: La Scuola di Medicina fra XVI e XX secolo, in: Brizzi, G.<br />
P. / Marini, L. / Pombeni, P. (Hg.): L`Università di Bologna. Maestri, studenti e luoghi dal XVI al<br />
XX secolo, Bologna 1988, S. 185-194. Auch die Einrichtung des Botanischen Gartens in Padua<br />
(1545) akzentuierte noch ganz das Viererschema der antiken Humoralpathologie, vgl. Azzi Visentini,<br />
M.: Il Giardino dei Semplici, in: Premuda, L. (Hg.): Il Secolo d`Oro della Medicina. 700 Anni di Scienza<br />
Medica a Padova, Modena 1986, S. 57-66.