Natur als Grenzerfahrung - Oapen
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Sammelnde Wissenschaft<br />
Erstens, die Reise, zu der um 1570 eine eigene Anweisungsliteratur (ars apodemika)<br />
entstand. Sie unterschied noch nicht zwischen Bildungs- und Forschungsreise. Den<br />
Reisenden bot sie Hinweise, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten, wie sie beobachten<br />
und wie sie ihre Erkenntnisse festhalten und daraus Reise- und Länderbeschreibungen<br />
machen sollten. Diese oft der antiken Rhetorik entnommenen Hinweise<br />
wurden auch zu topischen Beschreibungsschemata verdichtet. Damit sollten<br />
die Reiseberichte untereinander vergleichbar gemacht und die Nachforschungen<br />
künftiger Reisender unter Ausschluss von Hörensagen und Wiederholungen auf<br />
das immer noch Unbekannte konzentriert werden. Vom gebildeten Reisenden<br />
erwartete die ars apodemika ein enzyklopädisches Interessenspektrum. Nichts Bedeutendes<br />
und Betrachtenswertes (insigne, visu ac scitu dignum) durfte er unbeachtet<br />
lassen, sondern sollte es untersuchen, schriftlich und bildlich dokumentieren und<br />
dann zum Nutzen der res publica litteraria veröffentlichen. Diesem enzyklopädischen<br />
Erkundungsanspruch ist erst für Europa und dann für die anderen Kontinente<br />
eine Beschreibungsdichte zu verdanken, die alles hinter sich lässt, was andere Zivilisationen<br />
hier erreicht haben. 49 Zwar blieben die Beschreibungen ungleichwertig,<br />
ungeprüfte Annahmen und Vorurteile flossen in sie ein und das Reisen auf begangenen<br />
Pfaden wurde allmählich zum Tourismus. Darum fand eine gewisse Spezialisierung<br />
statt, doch unter Beibehaltung des ganzheitlichen Enzyklopädismus.<br />
Zweitens, das Anlegen von Sammlungen. Mit dem Reisen wurde auch das Sammeln<br />
gelehrt; beide sind ja schließlich Bewegungen im Raum. Der gebildete Reisende<br />
suchte nach Maßgabe seiner Möglichkeiten zu sammeln. Unterwegs erworbene<br />
Sammelobjekte würden nach der Rückkehr noch zusätzliche Bedeutung gewinnen,<br />
da sie die Reiseberichte authentisierten und auf zeitlich-räumlich entfernte Wirklichkeitsbereiche<br />
verwiesen. Neben Kunstwerken waren auch Bücher, Manuskripte,<br />
Münzen, Medaillen, archäologische Funde, Ethnographica sowie Spezimina aus<br />
den drei Reichen der <strong>Natur</strong> bevorzugte Sammelobjekte. Wie die Reiseberichte<br />
wurden sie rhetorisch geordnet und im Kabinett des Sammlers (studiolo, museo) zur<br />
Schau gestellt. Hierbei kam es neben Schönheit und Seltenheit auch auf das Bizarre<br />
und Exotische an, Eigenschaften, die die menschliche Neugier (curiositas) reizten<br />
und auf den göttlichen Schöpfungsplan hinzuweisen schienen. Der enzyklopädische<br />
Kollektionismus hat sich zusammen mit dem Humanismus von Italien über<br />
Europa verbreitet, wobei in den Ländern jenseits der Alpen, die dann auch die ars<br />
apodemica hervorgebracht haben, der Akzent sich vom Sammler auf die Sammlung<br />
verlagerte („Kunstkammer“, „Raritäten-“ oder „Kuriositätenkabinett“). 50 Es haben<br />
in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Wien / München 1976, der sich seinerseits auf Foucault:<br />
mots (wie Anm. 6) bezieht.<br />
49 Vgl. Stagl: Geschichte, Kap. II.<br />
50 Vgl. dazu besonders Minges: Sammlungswesen.<br />
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