Natur als Grenzerfahrung - Oapen
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Sammelnde Wissenschaft<br />
gegenüberstehende Andere aneignen, in den Besonderungen der Welt die Gattung,<br />
das Gesetz, das Allgemeine, den Gedanken, die innere Vernünftigkeit sich zur<br />
Anschauung bringen. Ebenso wie im Theoretischen strebt der europäische Geist<br />
auch im Praktischen nach der zwischen ihm und der Außenwelt hervorzubringenden<br />
Einheit. Er unterwirft die Außenwelt seinen Zwecken mit einer Energie, welche<br />
ihm die Herrschaft der Welt gesichert hat.“ 39<br />
Durch ihr Ideal der Messbarkeit und Mathematisierung der Welt führte die<br />
wissenschaftliche Revolution das Erfahrungs- mit dem Vernunftwissen zusammen.<br />
Doch hat sich der so begründete moderne Wissenschaftsbegriff nicht sofort<br />
durchgesetzt. Bis zum Ende der Frühen Neuzeit sprach man lieber von „Gelehrsamkeit“<br />
(doctrina, eruditio). „Gelehrsamkeit blieb bis an das Ende des 18. Jahrhunderts<br />
der umfassende Begriff für jede in die Form eines Systems gebrachte und<br />
deshalb zusammenhängende, im Übrigen wahre, gründliche und vorzugsweise der<br />
Tradition verdankte Erkenntnis“ (Erich Bödecker). 40 Unter diesen Begriff fielen<br />
der Ertrag der sammelnden und der experimentellen Forschung mitsamt den Ergebnissen<br />
der Spekulation, wiewohl es zwischen diesen Wissensformen Auseinandersetzungen<br />
gab. 41<br />
Doch man kann sagen, dass das sammelnde Forschen dem Gelehrsamkeitskonzept<br />
näher stand <strong>als</strong> die Experimentalwissenschaft. Auch war am Beginn der<br />
Frühen Neuzeit das Sammeln vordringlicher. Europa musste sich – heutigen Entwicklungsländern<br />
vergleichbar – zunächst den Erfahrungsstand anderer, in manchem<br />
überlegener Zivilisationen aneignen. Das dort Vorgefundene musste eingesammelt<br />
und aufgearbeitet werden. Dies waren zunächst die Leistungen des klassischen<br />
Altertums und dann, im Entdeckungszeitalter, auch die der zeitgenössischen<br />
Zivilisationen. Die ungeheure Menge damit hereinströmenden neuen Erfahrungswissens<br />
musste mit dem Vorhandenen und Anerkannten in Beziehung gesetzt<br />
werden. Der Humanismus benützte dazu die Methoden des Vergleichs (etwa zwischen<br />
Altem und Neuem) und des Wettstreits (paragone). 42 Ähnlich wurde auch das<br />
über Europa verstreute, aber noch nicht kodifizierte Erfahrungswissen, wie es von<br />
Praktikern (Handwerkern, Künstlern, Seeleuten, Militärs, Bergleuten, Kaufleuten<br />
oder Bauern) gehandhabt wurde, aufgespürt, verschriftlicht und mit dem sonstigen<br />
Wissen verbunden. Damit verwandelte sich das politisch-konfessionell zerklüftete<br />
Europa zu einem „Kommunikationsraum für technische Innovationen“ (Marcus<br />
39 Mündlicher Zusatz zu § 393 der Enzyklopädie nach Hegels Kollegienheften und Vorlesungsmitschriften,<br />
in: Hegel, Werke, 1970, S. 62 f.. Vgl. dazu die Ausführungen der Hg., ebd., S. 423 f., 429 f..<br />
40 Manuskript seines Vortrags auf dem von André Holenstein und Hubert Steinke organisierten<br />
Kongress „Praktiken des Wissens und die Figur des Gelehrten im 18. Jahrhundert“, 14.-17.10.2008 in<br />
Bern; erscheint im Tagungsband.<br />
41 Etwa in der Auseinandersetzung zwischen deskriptiver und quantifizierender Statistik, vgl. dazu<br />
Stewart, William E: Reisebeschreibung; Stigler, S. M.: The history of statistics. The measurement of uncertainty<br />
before 1900, Cambridge, Mass. / London 1986.<br />
42 Vgl. dazu Minges: Sammlungswesen, S. 53-58; Prochno, R.: Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst.<br />
Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen, Berlin 2006, bes. S. 25-34 und 97-112.<br />
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