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Natur als Grenzerfahrung - Oapen

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Wale, Eis und ‚Boreas Gewalt‘<br />

Landes und den Ernährungsmöglichkeiten der Bewohner die Ursache für die unterschiedlichen<br />

Entwicklungsstufen der verschiedenen Völker. Johann Gottfried<br />

Herder (1744-1803) beschreibt in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der<br />

Menschheit den Einfluss der <strong>Natur</strong> auf die Grönländer: „Alles, was die Kälte an ihm tun<br />

konnte, war, daß sie seinen Körper etwas zusammendrückte und den Umlauf seines Bluts gleichsam<br />

verengte. Der Grönländer bleibt meistens unter fünf Fuß und die Eskimo’s, seine Brüder,<br />

werden kleiner, je weiter nach Norden sie wohnen. Da aber die Lebenskraft von innen herauswirkt:<br />

so ersetzte sie ihm an warmer und zäher Dichtigkeit, was sie ihm an emporstrebender<br />

Länge nicht geben konnte. Sein Kopf ward in Verhältnis des Körpers groß, das Gesicht breit und<br />

platt, weil die <strong>Natur</strong>, die nur in der Mäßigung und Mitte zwischen zwei Extremen schön wirket,<br />

hier noch kein sanftes Oval ründen und insonderheit die Zierde des Gesichts und wenn ich so<br />

sagen darf den Balken der Waage, die Nase, noch nicht hervortreten lassen konnte. Da die Backen<br />

die größere Breite des Gesichts einnahmen, so ward der Mund klein und rund: die Haare<br />

blieben sträubig, weil weiche und seidene Haare zu bilden, es an feinem, emporgetriebenen Saft<br />

fehlte: das Auge blieb unbeseelt. Gleichergestalt formten sich starke Schultern und breite Glieder,<br />

der Leib ward blutreich und fleischig; nur Hände und Füße blieben klein und zart, gleichsam die<br />

Sprossen und äußeren Teile der Bildung.“ 47<br />

Nicht nur äußerlich leben die Grönländer angepasst an ihre Umwelt, sondern<br />

auch innerlich: „Wie die äußere Gestalt, so verhält sich auch von innen die Reizbarkeit und<br />

Ökonomie der Säfte. Das Blut fließt träger und das Herz schlägt matter; daher hier der schwächere<br />

Geschlechtstrieb, dessen Reize mit der zunehmenden Wärme anderer Länder, so ungeheuer<br />

wachsen. Spät erwachet derselbe: die Unverheirateten leben züchtig und die Weiber müssen zur<br />

beschwerlichen Ehe fast gezwungen werden. Sie gebären weniger, so daß sie die vielgebärenden<br />

lüsternen Europäer mit den Hunden vergleichen: in ihrer Ehe, sowie in ihrer Lebensart herrscht<br />

Sittsamkeit, ein zähes Einhalten der Affekten. […] Was ihnen die <strong>Natur</strong> an Reiz und Elastizität<br />

der Fibern versagt hat, hat sie ihnen an nachhaltender, dauernder Stärke gegeben und sie<br />

mit jener wärmenden Fettigkeit, mit jenem Reichtum an Blut, der ihren Aushauch selbst in<br />

eingeschloßnen Gebäuden erstickend warm macht, umkleidet.“ 48<br />

Das Verhältnis zwischen den Grönländern und Europäern entwickelte sich jedoch<br />

durch den engeren und dauerhaften Kulturkontakt zu einem Abhängigkeitsverhältnis:<br />

Die Grönländer nahmen den christlichen Glauben an, siedelten in der<br />

Nähe der dänischen Kolonien und stellten bedingt durch feste Arbeit für den Königlich<br />

Grönländischen Handel auch ihre Jagd- und Ernährungsgewohnheiten um.<br />

Damit änderte sich zwangsläufig auch ihre Beziehung zur <strong>Natur</strong>.<br />

47 Herder, J. G.: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Bollacher, M. (Hg.): Frankfurt am<br />

Main 1989, S. 210 f..<br />

48 Ebd., S. 211.<br />

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