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Natur als Grenzerfahrung - Oapen

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Die Katastrophe <strong>als</strong> darstellerisch-ästhetisches Ereignis<br />

Schöne. 23 Darin bestimmt der Philosoph den Schrecken <strong>als</strong> das alles beherrschende<br />

Prinzip. Dabei fasst er die Sympathie-Lehre der Moral-Sense-Philosophie und die<br />

Psychologie der Selbstliebe in einem dichotomischen Rahmen zusammen.<br />

Innerhalb dieses Oppositionssystems wird das Erhabene dem Schönen entgegen<br />

gesetzt. Grundlegend dafür ist die Unterscheidung von pleasure und pain. Schrecken<br />

und Gefahr – aus einer gewissen Entfernung und unter bestimmten Umständen<br />

betrachtet – können froh machen. Das Gefühl des Erhabenen basiert folglich auf<br />

einem Selbsterhaltungstrieb und ist mit den Empfindungen von Schrecken und<br />

Schmerz verbunden. 24 Dinge, die mit der Vorstellung Gefahr einhergehen, nennt<br />

Burke erhaben. Der Schrecken ist damit zum alleinigen Prinzip des Erhabenen<br />

geworden. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts gehörte die Bezeichnung „erhaben“ dann<br />

zum Sprachgebrauch für das Weite und Unermessliche sowie das Gewaltige und<br />

Zerstörerische. <strong>Natur</strong> und Landschaften gerieten geradezu zum Paradigma des<br />

Erhabenen. Das Bewusstsein, dass auch die Furcht einflössenden Berge ein Gefühl<br />

der Erhabenheit evozieren könnten, begann sich zu verbreiten.<br />

1761 schliesslich propagierte Jean-Jacques Rousseau (1717–1778) mit seinem<br />

Roman Julie ou la Nouvelle Héloise ein Gegenbild zu der dekadenten Stadtkultur. Er<br />

beschreibt die Menschen auf dem Lande <strong>als</strong> natürlich, friedlich, arbeit- und genügsam.<br />

Wie bereits Haller stilisiert er Landschaften zu Inseln inmitten einer dekadenten<br />

Welt. Der Genfer Aufklärer ortet dabei insbesondere in der Idylle des Hirtenlebens<br />

die Ursprünge der Freiheit und Demokratie. Damit fanden Sozialanthropologie<br />

und die natürliche Umwelt ihren vollendeten literarischen Ausdruck, das<br />

Motiv der Alpenlandschaft war von der Literatur endgültig entdeckt worden. 25<br />

5 Bildliche Darstellungen der Landschaft<br />

Gemäss Burke konnten die Alpen nun <strong>als</strong>o zu denjenigen Gebieten gezählt werden,<br />

die durch ihre übermächtige Grösse sowohl visuellen Schrecken <strong>als</strong> auch Erhabenheitsgefühle<br />

evozierten. Mit seiner Beschreibung eines Aufstiegs in die Alpen<br />

von 1761 kreierte Rousseau das Modell für den literarischen Topos des Entfliehens<br />

aus den Niederungen der Leidenschaften hinauf zu reinen ätherischen Höhen. 26<br />

Ab den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts wurde denn auch das Reisen in unbekannte<br />

Länder und fremde Landschaften zunehmend populär. Bereits im<br />

17. Jahrhundert gehörte es für Adlige und Angehörige des Bürgertums bekannter-<br />

23 Zelle: Grauen, S. 186–202.<br />

24 Burke, E.: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, Oxford 1990<br />

(vor allem Part I, Sections II-VII).<br />

25 Hentschel: Mythos, S. 50–55 und 127–146.<br />

26 Rousseau, J. J.: Œuvres complètes, Hg. B. Gagnebin / M. Raymond, Paris 1959–1969, Vol. 2: La<br />

nouvelle Héloïse – théâtre – poésies – essais littéraires, I/23 (Brief „Über das Wallis“, in welchem<br />

Saint Preux von seiner Exkursion in die Walliser Alpen berichtet).<br />

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