Natur als Grenzerfahrung - Oapen
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Tiere sind keine Sachen<br />
Tierprozesse schon Gegenstand des DFG Graduiertenkollegs „Interdisziplinäre<br />
Umweltgeschichte“ waren, 50 möchte ich aus der Überlieferung, die im deutschsprachigen<br />
Raum (vor allem in der Schweiz und Südtirol) gegen Ende des Mittelalters<br />
einsetzt, 51 nur das Paradebeispiel für ein weltliches Gerichtsverfahren, den sog.<br />
Südtiroler Lutmäuse-Fall von 1519/1520, herausgreifen. 52<br />
Die Rechtshistoriker stehen den Tierprozessen gegen Schädlinge eher kritisch<br />
gegenüber: So wird im Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte unter dem<br />
Lemma „Tierstrafe“ der Bericht über den Lutmäuse-Fall <strong>als</strong> Schwankerzählung<br />
eingeordnet. 53 Auch Dinzelbacher weist darauf hin, dass die Schilderung des Verfahrens<br />
wie eine Parodie wirke. 54 Die Frage, ob in Südtirol zu Beginn des 16. Jahrhunderts<br />
tatsächlich ein gerichtliches Verfahren gegen Lutmäuse durchgeführt<br />
wurde, ließe sich nur mit Hilfe der Gerichtsakten, die nach der Überlieferung in<br />
einem Gerichtsbuch der Gemeinde Glurns in Südtirol enthalten sein sollen, klären.<br />
Als Dinzelbacher die Akten 2004 einsehen wollte, wurde ihm vom Gemeindesekretär<br />
mitgeteilt, dass die gewünschten Akten nicht in Glurns vorhanden seien;<br />
schriftliche Nachforschungen Dinzelbachers in anderen süd- und nordtiroler Archiven<br />
und Bibliotheken blieben ebenfalls ohne Erfolg. 55<br />
Da der überlieferte Text stark an das Genre der Teufelsprozesse erinnert,<br />
könnte möglicherweise ein kritischer Vergleich der beiden Textgattungen zu neuen<br />
Ergebnissen führen. Bei den von italienischen Gelehrten im 14. Jahrhundert verfassten<br />
Teufelsprozessen handelt es sich um fiktive Prozesse, deren Gegenstand<br />
die Verrechtlichung des Heilsgeschehens in Form einer Klage der Teufelsgemeinde<br />
auf Herausgabe der durch den Opfertod Christi der Hölle entrissenen Menschheit<br />
50 Rohr, C., Zum Umgang mit Tierplagen im Alpenraum in der Frühen Neuzeit, in: Engelken,<br />
K./Hünniger, D./Windelen, S. (Hrsg.), Beten, Impfen, Sammeln, Zur Viehseuchen- und Schädlingsbekämpfung<br />
in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2007, S. 99, 114 ff.<br />
51 Aus dem Ende des 15. Jahrhunderts ist der sog. Berner Engerlingsprozess überliefert: In den Jahren<br />
1478/79 soll ein kirchliches Verfahren gegen Engerlinge (Maikäferlarven) durchgeführt und mit<br />
einem bischöflichen Bannspruch beendet worden sein. In der deutschen Literatur findet der Prozess<br />
bereits im 18. Jahrhundert Erwähnung in: Börner, I. K. H., Sammlungen aus der <strong>Natur</strong>geschichte, Oekonomie-,<br />
Polizey-, Kameral- und Finanzwissenschaft, 1. Theil, 1774, S. 154 f. Dazu auch Rohr, Tierplagen,<br />
S. 116 ff.; Gerick, Recht, S. 60 ff.<br />
52 Der Prozess gegen Lutmäuse (Wühlmäuse) wird (erstm<strong>als</strong>?) 1845 bei Freiherr von Hormayr, J.<br />
(Hrsg.), Taschenbuch für vaterländische Geschichte 34 (1845), S. 237 ff. erwähnt und seitdem in der<br />
Literatur verarbeitet, vgl. v. Amira, MIÖG 12 (1891), S. 566; Berkenhoff, Tierstrafe, S. 98 ff.; Hülle,<br />
W., Von Tierprozessen im deutschen Recht, DRiZ 1990, S. 135, 137; Herrmann, B., Zur Historisierung der<br />
Schädlingsbekämpfung, in: Meyer, T./Popplow, M. (Hrsg.), Technik, Arbeit und Umwelt in der Geschichte,<br />
Günter Bayerl zum 60. Geburtstag, Münster 2006, S. 317, 329; Rohr, Tierplagen, S. 120 ff.;<br />
Strasser, C., Staatliche Maßnahmen gegen Tiere – Alter Wein in neuen Schläuchen?, Tiere <strong>als</strong> Rechtssubjekte im<br />
Strafrecht des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Agrar- und Umweltrecht 2006, S. 346, 348.<br />
53 Kaufmann, HRG V, Sp. 239. In Ansätzen auch Laufs, Tier, S. 115 f. Immerhin enthält auch das<br />
Deutsche Rechtswörterbuch ein Lemma „Lutmaus“.<br />
54 Dinzelbacher, Mittelalter, S. 122.<br />
55 Dinzelbacher, Mittelalter, S. 253 (Fn. 150). Auch Rohr, Tierplagen, S. 124 weist darauf hin, dass<br />
„nirgendwo, weder in der älteren noch in der jüngeren Literatur, erwähnt wird, wo sich die zitierten<br />
Prozessakten tatsächlich befinden“.<br />
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