Natur als Grenzerfahrung - Oapen
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Seuchentheorie und Umwelt in der Frühen Neuzeit<br />
ken. 12 In den Pesttraktaten bedeutender Ärzte wie Marsilio di Santa Sofia (um<br />
1400), Michele Savonarola (ca. 1447), Marsilio Ficino (um 1476), Johannes Ketham<br />
(1491), Alessandro Benedetti (1493) oder Tomaso Rangone (um 1570) wurden<br />
diese Grundsätze rekapituliert. 13 Nach der noch im 17. Jahrhundert gelehrten Viersäftelehre<br />
(Humoralpathologie), deren Ursprünge heute vor allem auf den Arzt und<br />
Philosophen Alkmaion von Kroton (um 500 v. Chr.) zurückgeführt werden, 14 wird<br />
die Luft durch feuchte Wärme zunehmend in einen fauligen Zustand (aer corruptus)<br />
versetzt. Bestimmte <strong>Natur</strong>phänomene, wie Gewitter, stehende Wassertümpel,<br />
Pfützen und sommerliche Mückenschwärme standen im Verdacht, diesen Effekt<br />
zu verstärken. Durch Einatmung bzw. Schlucken der Miasmen, d. h. der fauligen<br />
Luftteile, wurde die Fäulnis „wie ein Gift“ in den Körper übertragen. 15 Die Pest<br />
wurde <strong>als</strong> auf diese Weise induzierte „innere Fäulnis“ verstanden. 16 So stand seit<br />
1348, ja schon zur Zeit der Justinianischen Pest des 6. Jahrhunderts 17 die Botschaft<br />
im Raum: Hitze und Schwüle, was immer ihre Ursache sein mag, begünstigen den<br />
Ausbruch von Seuchen, vor allem aber der Pest, die in Städten und Dörfern niem<strong>als</strong><br />
nur Einzelne befällt, da die gefährlichen Miasmen naturgemäß von vielen<br />
Menschen eingeatmet werden. Gleichzeitig wird die Infektiosität durch Ausdünstungen<br />
der Kranken – durch Ausatmung oder durch die Poren der Haut –<br />
verstärkt. 18 Niem<strong>als</strong> hätte sich der gesundheitsbewusste Mensch freiwillig im<br />
Sommer am feuchten Meer etwa der glühenden Hitze, hinter der die gefürchteten<br />
Miasmen lauerten, ausgesetzt!<br />
Zu Pestzeiten (unter dem Begriff Pest subsumierte man von der Antike bis<br />
zum 18. Jahrhundert eine Vielzahl von Seuchen, deren klinische Bilder sich vor<br />
allem im Endstadium glichen 19) bzw. wenn Seuchengefahr drohte, war es selbstverständliche<br />
ärztliche Pflicht, zu rekonstruieren, wie es erneut zu einer Ansammlung<br />
von Miasmen kommen konnte. Ohne eine solche war ein Seuchenausbruch,<br />
glaubte man der „Schulmedizin“, faktisch nicht erklärbar. Gab es keine konkreten<br />
Hinweise auf „verpestete“ Lüfte, wurden diese geradezu zwanghaft beschworen.<br />
Brach die Pest kurz nach einem Erdbeben aus, begründete man die Entstehung der<br />
Seuche mit den Miasmen, die durch die akut geöffneten Erdspalten aus dem<br />
12 Diller: Hippokrates, S. 16-47.<br />
13 Vgl. Ausstellungskatalog: Venezia e la Peste 1348-1797, Venedig 1979, S. 21-28, hier S. 36-43.<br />
14 Vgl. Schöner, E.: Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie, mit einem Vorwort von R. Herrlinger<br />
(=Sudhoffs Archiv Beiheft 4), Wiesbaden 1964.<br />
15 Vgl. Leven: Infektionskrankheiten, S. 21.<br />
16 Vgl. Bergdolt, K.: Der Schwarze Tod in Europa. Die große Pest und das Ende des Mittelalters, München<br />
52003, S. 21.<br />
17 Zur Pest unter Justinian vgl. Leven, K. H.: Die „Justinianische“ Pest, in: Jahrbuch des Instituts für<br />
Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung, Bd. 6, 1987, S. 137-161.<br />
18 Bergdolt: Tod, S. 24.<br />
19 Zum Problem der „retrospektiven Diagnose“ vgl. Leven, K. H.: Von Ratten und Menschen – Pest,<br />
Geschichte und das Problem der retrospektiven Diagnose, in: Meier, M. (Hg.): Die Pest. Die Geschichte eines<br />
Menschheitstraumas, Stuttgart 2005, S. 11-32, besonders S. 25-28.<br />
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