Natur als Grenzerfahrung - Oapen
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Sammelnde Wissenschaft<br />
Hier kann man nun auch speziell zum Wissenserwerb sammeln. 31 Die Eigendynamik<br />
der Sammlungen, vor allem jener vom differenzierend-ästhetischen Typus,<br />
hat hiermit zu tun: Bei der Ordnung der Objekte zeigen sich Leerstellen, die<br />
aber durch weiteres Sammeln aufgefüllt werden können, womit aber auch schon<br />
wieder neue Leerstellen auftreten. So wird die Sammlung niem<strong>als</strong> „fertig“, aber sie<br />
hält den Sammler in Bewegung. Er verfügt zwar über sie, doch auch sie über ihn.<br />
In pathologischen Fällen kehrt das ursprüngliche Verhältnis sich wieder um: Nun<br />
bemächtigt sich die Welt wiederum des Sammlers, die Sammlung vereinnahmt ihn<br />
völlig, treibt ihn in den Ruin, untergräbt seine sozialen Beziehungen. 32 Familie und<br />
Freunde eines passionierten Sammlers stehen seiner Sammlung meist ambivalent<br />
gegenüber und lassen es ihn auch fühlen. Wenn es ihm nicht gelingt, sie <strong>als</strong> Hort –<br />
etwa in Form einer Stiftung – deren Antagonismus zu entziehen, wird sie nach<br />
seinem Tode wieder zerstreut und verliert so ihr „Eigenleben“. Die Objekte kommen<br />
wieder in Umlauf und gehen in neue Sammlungen ein. Gegenüber dem archaischen<br />
Gabentausch ist diese Zirkulation indes in Intervallen von zumeist einer<br />
Generation verzögert. Was sich in der Entwicklung vom Schatz zur differenzierend-ästhetischen<br />
Sammlung jedoch wandelt, ist die Tendenz zur Bewahrung der<br />
Bedeutungen der Objekte, zur Erhaltung des beim Sammeln gewonnenen Wissens.<br />
Das Sammeln ist eine ständige Hin- und Herbewegung zwischen Peripherie<br />
und Zentrum, zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, zwischen Konzentration<br />
und Zerstreuung im Einzelnen und in der Gemeinschaft. Den Sammlungsräumen<br />
der Gemeinschaft entspricht beim Einzelnen das Gedächtnis: Es ist<br />
das Repositorium seiner Sammeltätigkeit, und auf ihm bauen das soziale und das<br />
kulturelle Gedächtnis auf. 33 In den Hin- und Herbewegungen des Sammelns manifestiert<br />
sich der hermeneutische Zirkel, von dem sich keine Form menschlicher Weltaneignung<br />
befreien kann.<br />
3 Wissenschaftsgeschichtliche Exemplifizierung des<br />
Sammelns<br />
Sammelnde Forschung nimmt ihre Objekte so entgegen, wie sie sie in der Außenwelt<br />
vorfindet. Darin unterscheidet sie sich von der experimentellen Forschung. Die expe-<br />
31 Vgl. dazu Grote, A. (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns<br />
1450-1800, Opladen 1994, darin besonders Marquard, O.: Wegwerfgesellschaft und Bewahrungskultur,<br />
S. 909-918 sowie Brandt, R.: Das Sammeln der Erkenntnis, S. 21-33. Vgl. auch Sommer: Sammeln,<br />
S. 324-328, 352-355, 395 f. und 403-409.<br />
32 Vgl. Assmann et al.: Sammler-Bibliophile, darin speziell Assmann, A.: Der Sammler <strong>als</strong> Pedant,<br />
S. 261-274 und Lobsien, V.: Sinnreich und melancholisch, oder: Die Alterität des Ide<strong>als</strong>. Zwei frühneuzeitliche<br />
Bibliomane – Democritus Junior und Don Quijote, S. 347-373.<br />
33 Assmann; J.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen,<br />
München 21997; vgl. auch Assmann, A. / Harth, D. (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen<br />
Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991.<br />
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