Stenografischer Bericht 130. Sitzung - Deutscher Bundestag
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(B)<br />
15490 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 17. Wahlperiode – <strong>130.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011<br />
(A) Wege der Migration sind zu verändern und zu kontrolliegedrückt – problematische Rolle hin, die Frontex im (C)<br />
ren, um der Menschen willen.<br />
Umgang mit den Flüchtlingen nicht nur im Mittelmeer,<br />
Lobend und beispielhaft erwähnen will ich die Organisation<br />
der Seenotrettung in Deutschland. Sie wird<br />
durch die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger,<br />
DGzRS, eine nichtstaatliche Rettungsorganisation,<br />
durchgeführt. Die Gesellschaft finanziert sich überwiegend<br />
durch freiwillige Zuwendungen und komplett<br />
ohne Steuergelder. Die erste deutsche Rettungsstation<br />
wurde 1809 in Memel gegründet. Heute betreibt die<br />
sondern auch an der griechisch-türkischen Grenze spielt.<br />
So behauptet zum Beispiel Human Rights Watch, dass<br />
Frontex eine Mitschuld trage, wenn sie Migranten wissentlich<br />
Bedingungen aussetze, die eindeutig gegen internationale<br />
Menschenrechtsstandards verstoßen. Die<br />
EU müsse dringend die Regeln für Frontex-Einsätze verschärfen<br />
und sicherstellen, dass zur Verantwortung gezogen<br />
wird, wer diese Regeln nicht einhält.<br />
DGzRS eine Flotte von 61 Seenotkreuzern und Seenotrettungsbooten<br />
auf 54 Stationen. Seenotrettung ist<br />
grundsätzlich Teil nationalstaatlicher Kompetenz.<br />
Würde die Seenotrettung für das Mittelmeer europäisch<br />
geregelt, welches Hochseegewässer würde dann der nationalen<br />
Seenotrettung weiterhin unterstehen und welches<br />
nicht, oder organisiert und finanziert die EU dann<br />
auch die Seenotrettung im Atlantik, dem Schwarzen<br />
Meer und in der Nord- und Ostsee?<br />
Auf Anfrage heißt es aus dem Bundesinnenministerium<br />
zwar, dass Frontex sich nach den einschlägigen<br />
menschenrechtlichen Leitlinien richte, sich an das Verbot<br />
einer Ausschiffung von Flüchtlingen halte und auch<br />
das Nonrefoulement-Prinzip achte – also keine Flüchtlinge<br />
zwangsweise in Staaten zurückgewiesen werden,<br />
in denen sie unmittelbare existenielle Bedrohung zu befürchten<br />
haben. Dennoch scheint man Handlungsbedarf<br />
erkannt zu haben. So plant die EU-Kommission ein Projekt<br />
zur besseren Überwachung der Seesicherheit im<br />
Mittelmeer, an dem 6 Mitgliedstaaten und 37 Behörden<br />
beteiligt sein sollen. Außerdem soll bei Frontex ein<br />
Menschenrechtsforum angegliedert werden, in dem auch<br />
das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen<br />
eine Stimme erhält. Ein Verhaltenskodex in Menschenrechtsfragen<br />
ist für Frontex geplant, der Sanktionen bei<br />
Verstößen vorsieht. Im Rahmen der gemeinsamen europäischen<br />
Asylpolitik will man die Rechtssicherheit bei<br />
Frontex-Einsätzen verstärken.<br />
Wolfgang Gunkel (SPD): Es gibt eine seit Jahrhunderten<br />
geltende stolze Tradition der Seefahrt, die in nahezu<br />
allen Kulturen und Regionen der Welt Geltung hat.<br />
Ich spreche vom selbstverständlichen Gebot, Menschen<br />
in Seenot Beistand zu leisten. Das völkerrechtliche<br />
grundsätzliche Übereinkommen, Schiffbrüchigen das<br />
Recht auf Hilfe zu garantieren, findet sich folgerichtig<br />
auch im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen<br />
wieder. Dort heißt es:<br />
Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine<br />
Flagge führenden Schiffes (…) jeder Person, die<br />
auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu<br />
leisten;<br />
Insofern muss es sehr verwundern, dass wir einen Antrag<br />
kontrovers debattieren, der im Kern schlicht und<br />
einfach die Einhaltung der völkerrechtlichen Pflicht zur<br />
Seenotrettung einfordert, mithin eine unstrittige rechtsstaatliche<br />
Grundwahrheit.<br />
Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen<br />
spricht von mindestens 2 000 Menschen, die in diesem<br />
Jahr bereits im Mittelmeer auf der Flucht ertrunken sind.<br />
Das Bundesministerium des Innern geht von etwa<br />
50 000 – wie es dort heißt – Migranten aus, die bis heute<br />
aus Nordafrika über das Mittelmeer nach Europa gekommen<br />
sind. 9 000 Menschen wurden laut BMI in Seenot<br />
gerettet. Über Fälle, in denen Boote abgedrängt oder<br />
zum Kentern gebracht wurden, wie es immer wieder von<br />
Menschenrechtsorganisationen zu hören ist, liegen dem<br />
Bundesinnenministerium keine Informationen vor. So<br />
jedenfalls wurde im Menschenrechtsausschuss des <strong>Bundestag</strong>es<br />
berichtet. Aber natürlich kennt auch die Bundesregierung<br />
die von Nichtregierungsorganisationen genannten<br />
Zahlen, hinter denen Schicksale von Menschen<br />
auf der Flucht stehen, die auf hoher See verhungert, verdurstet<br />
oder ertrunken sind.<br />
Die „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit<br />
an den Außengrenzen“, kurz Frontex genannt,<br />
koordiniert, wie wir wissen, auch die Einsatzkräfte der<br />
EU-Mitgliedstaaten im Mittelmeer. Menschenrechtsorganisationen<br />
weisen seit langem auf die – vorsichtig aus-<br />
So weit, so gut. Nur wissen wir aus bitterer Erfahrung:<br />
Papier ist geduldig. Den geplanten Maßnahmen<br />
der Bundesregierung und der EU-Kommission, mit denen<br />
Menschenrechtsverletzungen geahndet und bestenfalls<br />
sogar verhindert werden sollen, müssen nicht nur<br />
beschlossen, sondern auch effektiv umgesetzt werden.<br />
Es ist ja nicht so, dass Frontex zentral gesteuerte eigene<br />
Einsatzkräfte hätte. In vielen Fällen handeln Einsatzkräfte<br />
eines EU-Mitgliedstaates allein und mit Unterstützung<br />
von Frontex. So gibt es zum Beispiel beim Einsatz<br />
„Hermes“ vor Lampedusa im Mittelmeer keine Rettungs-<br />
oder Marineschiffe von Frontex. Frontex beteiligt<br />
sich nur an der Finanzierung italienischer Einsatzmittel<br />
und Einsatzkräfte. Lediglich die Maßnahmen an Land<br />
bei der Registrierung der Flüchtlinge und beim sogenannten<br />
Screening finden unter Beteiligung von Frontex<br />
statt. Auch bei der Luftüberwachung unterstützt Frontex<br />
den Einsatz. Die Maßnahmen auf See entziehen sich<br />
aber der unmittelbaren Kontrolle jedweder EU-Behörden.<br />
Kurz: Ohne ein funktionierendes Kontrollregime<br />
bleibt ein Verhaltenskodex und Menschenrechtsforum<br />
für Frontex ein Papiertiger.<br />
Wie wenig die geplanten Maßnahmen zur Überwachung<br />
der Seenotrettung auf EU-Ebene einem tatsächlichen<br />
politischen Durchsetzungswillen folgen, zeigt zugleich<br />
ein anderer Aspekt, der – aus welchen Gründen<br />
auch immer – in der Debatte kaum zu hören ist: Die Seenotrettung<br />
liegt gar nicht in der Kompetenz des für Frontex<br />
zuständigen Innenministeriums, sondern in der des<br />
Bundesverkehrsministeriums. Und hier gibt es weder<br />
eine Koordinierung unter den EU-Mitgliedern noch eine<br />
Initiative, eine solche zu institutionalisieren. Wie also<br />
(D)