Stenografischer Bericht 130. Sitzung - Deutscher Bundestag
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15494 <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 17. Wahlperiode – <strong>130.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011<br />
(A) für solche Menschen muss zu einem wesentlichen Be- der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Be- (C)<br />
standteil des humanitären Handelns von Staaten und dingungen in griechischen Flüchtlingslagern als men-<br />
Staatengemeinschaften werden.<br />
schenunwürdig und erniedrigend verurteilt. Laut Human<br />
Rights Watch tragen Frontex und beteiligte EU-Mit-<br />
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit<br />
Januar 2011 haben nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerkes<br />
2 000 Menschen auf ihrer Flucht vor Menschenrechtsverletzungen,<br />
Gewalt und Armut ihr Leben<br />
im Mittelmeer verloren. In Anbetracht dieser Todesfälle<br />
ist es vollkommen unverständlich, wenn nun die Regierungsfraktionen<br />
unseren Antrag zur Seenotrettung mit<br />
der Begründung ablehnen möchten, es gebe bereits Verbesserungen,<br />
und es müsse nichts mehr getan werden.<br />
Wenn Tausende Menschen vor den Küsten Europas ertrinken,<br />
ist der Handlungsbedarf doch offensichtlich. Die<br />
gliedstaaten, darunter auch Deutschland, eine Mitschuld<br />
an den Menschenrechtsverletzungen, da sie Flüchtlinge<br />
wissentlich menschenunwürdigen Bedingungen aussetzen.<br />
Jetzt haben auch Unionspolitiker nach ihrer Reise<br />
nach Griechenland erkannt, dass die Situation menschenrechtlich<br />
untragbar ist. Die entscheidende Frage<br />
aber bleibt, ob die Bundesregierung die richtigen Konsequenzen<br />
aus dieser Erkenntnis zieht. Hierzu gehört, die<br />
Aussetzung von Rückführungen nach der Dublin-II-Verordnung<br />
nach Griechenland auf unbefristete Zeit zu verlängern.<br />
Bundesregierung sollte sich in dieser humanitären Katastrophe<br />
drei zentrale Prinzipien einer menschenrechtlich<br />
vertretbaren Flüchtlingspolitik in Erinnerung rufen.<br />
Außerdem sollte die Bundesregierung ihre Blockadehaltung<br />
gegenüber einem einheitlichen europäischen<br />
Asylsystem aufgeben. Gemeinsame Regeln für die Bear-<br />
Erstens. Die Rettung von Menschenleben hat oberste<br />
Priorität. Deshalb fordern wir in unserem Antrag die<br />
Bundesregierung auf, die Seenotrettung im Mittelmeer<br />
gemeinsam mit anderen EU-Mitgliedstaaten zu verbessern.<br />
Die Ursachen der Schiffsunglücke sind nicht auf<br />
ein lückenhaftes völkerrechtliches Regelwerk zurückzuführen,<br />
sondern vielmehr auf die mangelnde Durchsetzung<br />
der bereits bestehenden seerechtlichen Verpflichtungen.<br />
Die derzeitige Situation ist humanitär und<br />
menschenrechtlich unhaltbar. Da es kaum noch Möglichkeiten<br />
gibt, die EU auf legalem und sicherem Weg zu<br />
erreichen, gehen Flüchtlinge lebensgefährliche Risiken<br />
beitung von Asylanträgen und einheitliche Aufnahmebedingungen<br />
sind unbedingt notwendig. 2009 lag die<br />
Wahrscheinlichkeit, dass ein Iraker Asyl erhielt, in<br />
Frankreich bei 82 Prozent, in Griechenland nur bei<br />
2 Prozent. Insgesamt sollte für Flüchtlinge an den EU-<br />
Außengrenzen eine europäische Lösung gefunden werden,<br />
die allen Menschenrechtsnormen gerecht wird.<br />
Dazu gehört auch eine solidarische Verteilung der<br />
Flüchtlinge innerhalb Europas. Die Bundesregierung beruft<br />
sich immer noch auf die Dublin-II-Verordnung. Das<br />
ist für Deutschland ohne EU-Außengrenzen bequem,<br />
sieht aber keine gerechte Teilung der Verantwortung vor.<br />
(B)<br />
ein, um Schutz in Europa zu finden. Es muss ein sicherer<br />
Korridor geschaffen werden, der das Überleben der<br />
Flüchtlinge sichert. Europäische Maßnahmen dürfen<br />
nicht mit dem Schutz der Grenzen und dem Verbarrikadieren<br />
der „Festung Europa“ beginnen. Es geht zuallererst<br />
um den Schutz von Leib und Leben der Flüchtlinge<br />
an der Grenze.<br />
Drittens sollten wieder alle Staaten eng mit dem Hohen<br />
Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zusammenarbeiten.<br />
Hierzu gehört die finanzielle Unterstützung<br />
seiner Arbeit, zum Beispiel bei der<br />
Bewältigung der humanitären Katastrophe am Horn von<br />
Afrika, aber auch die Aufnahme von einer bestimmten<br />
Anzahl von Flüchtlingen. Der UNHCR hat Bundesin-<br />
(D)<br />
Es ist für Europa als Ganzes unwürdig, dass mit Fronnenminister Hans-Peter Friedrich am 15. März 2011 getex<br />
zwar eine sehr effiziente Agentur zum Schutz der beten, die dauerhafte Neuansiedlung von Flüchtlingen<br />
Grenzen gefunden wurde, es aber keine europäische In- aus Libyen in Deutschland zu ermöglichen. Das UNstitution<br />
gibt, die das Mittelmeer in der Frage der Flüchtlingshilfswerk sucht 8 000 solcher Resettlement-<br />
Seenotrettung sichert. Die Rettung von Menschenleben Plätze für Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia, Äthiopien<br />
als oberste Priorität nicht zu erkennen, ist eine Katastro- und dem Sudan. Diese können weder nach Libyen noch<br />
phe. Die Europäische Union mit ihrem Wertekanon und in ihre Heimatländer zurückkehren. Weltweit stehen bis-<br />
Deutschland mit seinem Grundgesetz können es sich her nur 900 Plätze zur Verfügung. Ägypten und Tunesien<br />
nicht leisten, sehenden Auges die Menschen zu Tausen- tragen weiterhin die Hauptverantwortung bei der Aufden<br />
im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Europa muss sich nahme der Flüchtlinge aus Libyen. Weniger als 1 Pro-<br />
entscheiden, der Tragödie zuzusehen oder zu helfen. zent dieser Flüchtlinge sind nach Europa gelangt. Die<br />
Wenn wir jetzt nicht handeln, werden uns nachfolgende abschlägige Antwort der Bundesregierung ist daher beson-<br />
Generationen zu Recht vorwerfen, dass Deutschland ders beschämend. Und sie steht im Widerspruch zur Genfer<br />
zwar die Menschenrechte weltweit gepredigt, beim Flüchtlingskonvention, die Staaten zur Kooperation mit<br />
Drama im Mittelmeer aber tatenlos zugesehen hat. dem UNHCR verpflichtet. Deutschlands Einsatz für einen<br />
Zweitens. Die Flüchtlingsfrage ist keine nationale,<br />
sondern eine europäische Angelegenheit. Die Präambel<br />
der Genfer Flüchtlingskonvention betont nicht ohne<br />
Grund, dass eine befriedigende Lösung nur durch eine<br />
demokratischen Wandel und einen besseren Schutz der<br />
Menschenrechte in Nordafrika muss auch die Bereitschaft<br />
zur Aufnahme von Menschen einschließen, die durch den<br />
Konflikt in Libyen ihre Zuflucht verloren haben.<br />
Zusammenarbeit der Staaten erreicht werden kann. Hu- Mit der Umsetzung dieser drei Prinzipien kämen wir<br />
manitäre Pflichten, die mit der Aufnahme von Flüchtlin- den Grundwerten einer menschenwürdigen Flüchtlingsgen<br />
einhergehen, dürfen nicht allein den Ländern des politik ein Stück näher. Es ist ein Gebot der Menschlich-<br />
Südens überlassen bleiben. Deutschland trägt Mitverantkeit, Flüchtlinge zu retten. Europa muss sich dieser Verwortung<br />
für das, was in anderen EU-Mitgliedstaaten und antwortung stellen. Ich bitte Sie daher, unserem Antrag<br />
was im Mittelmeer geschieht. Am 21. Januar 2011 hat zur Seenotrettung zuzustimmen.<br />
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de<br />
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de<br />
ISSN 0722-7980