Stenografischer Bericht 130. Sitzung - Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht 130. Sitzung - Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht 130. Sitzung - Deutscher Bundestag
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Klaus Barthel<br />
<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 17. Wahlperiode – <strong>130.</strong> <strong>Sitzung</strong>. Berlin, Donnerstag, den 29. September 2011 15247<br />
(A) schoben wurde, ohne dass die letzte Stunde mit Ihren Er- nicht nur der Anteil der Älteren an den Arbeitslosen und (C)<br />
klärungen einen großen Erkenntnisgewinn gebracht den Langzeitarbeitslosen gestiegen, sondern auch die ab-<br />
hätte.<br />
solute Zahl der älteren Arbeitslosen. Das muss man sich<br />
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.<br />
Sebastian Blumenthal [FDP] – Dr. Gesine<br />
Lötzsch [DIE LINKE]: Stimmt doch überhaupt<br />
nicht! Es ist doch erst Mittagszeit!)<br />
einmal auf der Zunge zergehen lassen, wenn man über<br />
befristete Beschäftigung als Brücke in den Arbeitsmarkt<br />
redet. Es gibt also keinerlei positive Sachgründe für die<br />
sachgrundlose Befristung, weder bei den Jungen noch<br />
bei den Älteren.<br />
Eigentlich steht in den Anträgen, die vorliegen, genug<br />
zu den befristeten Arbeitsverhältnissen. Es gibt genügend<br />
Gründe, die Befristung gesetzlich zurückzudrängen<br />
und vor allen Dingen die sachgrundlose Befristung abzuschaffen.<br />
Denn wir haben jetzt ein Vierteljahrhundert Erfahrungen<br />
mit befristeten Arbeitsverhältnissen gesammelt<br />
und wissen: Sie schaffen keinen einzigen<br />
zusätzlichen Arbeitsplatz. Sie sind ein Mittel, die Menschen<br />
unter Druck zu setzen und die Würde und den<br />
Wert der Arbeit zu mindern. Vor allen Dingen sind sie<br />
keine Brücke in den Arbeitsmarkt, in eine feste Beschäftigung.<br />
Vielmehr zeigt die Ausweitung der sachgrundlosen<br />
Befristung über alle Krisen und Aufschwünge hinweg,<br />
dass sie neben der Leiharbeit, den Minijobs, den<br />
Praktika und der Niedriglohnbeschäftigung eine der vielen<br />
Formen der Flexibilisierung von Arbeit darstellt,<br />
Es gibt nicht nur arbeitsmarkt- und sozialpolitische<br />
Gründe, nicht nur Gründe, die etwas mit Würde und Anstand<br />
zu tun haben, sondern es gibt auch handfeste wirtschaftliche<br />
Gründe, die gegen die massenhafte Befristung<br />
sprechen. Die haben natürlich etwas mit dem<br />
Thema zu tun, mit dem wir uns eben beschäftigt haben:<br />
der Situation zum Beispiel in der europäischen Wirtschaft.<br />
Befristete Beschäftigung, Leiharbeit, Niedriglöhne,<br />
die ganze Verwilderung der Sitten auf dem Arbeitsmarkt<br />
haben die Krise selbstverständlich mit<br />
verursacht. Wer ständig Angst um seine Weiterbeschäftigung<br />
haben muss, wer daran gehindert wird, Betriebsrat<br />
zu werden oder Betriebsräte zu wählen, wer nicht weiß,<br />
wie er in den nächsten Monaten seine Existenz finanzieren<br />
soll, der befindet sich nicht nur in einem würdelosen<br />
Zustand, sondern er muss auch alle Zumutungen akzep-<br />
(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Wer hat tieren.<br />
das alles denn eingeführt?)<br />
Derzeit sind fast die Hälfte aller neu abgeschlossenen<br />
die dazu führen, dass sichere Arbeitsverhältnisse – also Arbeitsverhältnisse befristet. Das drückt das Selbstbe-<br />
gute Arbeit – in prekäre Arbeitsverhältnisse – also in unwusstsein, die Löhne und wirkt sich negativ auf die Arsichere,<br />
schlechter bezahlte Arbeit – umgewandelt werbeitsbedingungen aus. Das hat – die Zahlen zeigen es –<br />
den. Das ist alles, was die sachgrundlose Befristung in ökonomische Folgen: Nur noch die Hälfte der Beschäf-<br />
(B)<br />
den letzten 25 Jahren bewirkt hat, und daraus müssen<br />
wir alle hier Lehren ziehen.<br />
tigten steht unter dem Schutz von Tarifverträgen, in immer<br />
mehr Betrieben gibt es keinen Betriebsrat mehr, und<br />
der Niedriglohnsektor weitet sich aus. Befristete Verhältnisse<br />
spielen dabei eine entscheidende Rolle.<br />
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie<br />
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE<br />
GRÜNEN)<br />
Das alles führt dazu, dass die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer<br />
seit 20 Jahren real stagnieren, zeitweise sogar<br />
zurückgehen. Die Lohnquote sinkt, das Geld fehlt<br />
– weil die Sozialbeiträge ja auch zurückgehen – im Sozialstaat,<br />
was zu Kürzungen von sozialen Leistungen<br />
führt. Alles zusammen bewirkt einen Rückgang der<br />
Massenkaufkraft. Das Geld fließt auf die internationalen<br />
Finanzmärkte, mit der Folge, dass die Reichen immer<br />
reicher werden und die Mitte der Gesellschaft schwindet.<br />
(D)<br />
Eines will ich ganz deutlich sagen – ich kenne die<br />
Debatten der letzten Monate; Herr Zimmer hat diesen<br />
Punkt ebenfalls angesprochen –: Auch wir Sozialdemokraten<br />
ziehen solche Lehren. Ich sage das auch, um die<br />
Antwort auf entsprechende Redebeiträge, die noch kommen<br />
werden, vorwegzunehmen. Zur Geschichte der befristeten<br />
Arbeitsverhältnisse seit 1985 ist in unserem<br />
Antrag – man kann das nachlesen – genug gesagt, auch<br />
zu unserer Verantwortung. Die Frage ist heute doch nicht<br />
mehr, wer wann was warum gemacht hat; darüber haben<br />
wir uns längst ausgetauscht und tun das immer wieder.<br />
Heute ist die Frage interessant: Was lernen wir daraus?<br />
Was tun wir?<br />
(Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])<br />
Keines der Versprechen der Neoliberalen, der Arbeitgeberverbände<br />
und der Gutgläubigen hat sich erfüllt.<br />
Das sieht man zum Beispiel bei den älteren Arbeitnehmerinnen<br />
und Arbeitnehmern, die nach geltendem Recht<br />
besonders einfach in den Genuss sachgrundloser Befristung<br />
der Beschäftigung kommen sollen; ausgerechnet<br />
bei den Älteren gibt es die Möglichkeit der erweiterten<br />
Befristung, kombiniert mit Zuschüssen, Subventionen<br />
und Erleichterungen, die sogenannte Einstellungshemmnisse<br />
beseitigen sollen. Das Ergebnis ist: Selbst während<br />
des Aufschwungs in den Jahren 2010 und 2011, während<br />
des „Beschäftigungswunders“, haben die Unternehmen<br />
davon kaum Gebrauch gemacht. Trotz allen Fachkräftemangels<br />
und aller Kampagnen für über 55-Jährige ist<br />
Was passiert dann? Dann entsteht der Stoff, aus dem<br />
die Spekulation und die Krisen sind. Deutschland war<br />
bei der Umverteilung leider besonders erfolgreich. Nirgendwo<br />
in den Industrieländern, außer vielleicht in den<br />
USA, war die Umverteilung so massiv, sind die Löhne<br />
und Lohnstückkosten so sehr zurückgeblieben und die<br />
Millionäre so viel reicher geworden wie in Deutschland.<br />
Die Unternehmen haben im Durchschnitt der letzten<br />
zehn Jahre 130 Milliarden Euro pro Jahr mehr erlöst, als<br />
im Inland verbraucht worden sind. Jeder Cent von diesen<br />
130 Milliarden Euro – in den letzten elf Jahren mehr als<br />
1,5 Billionen Euro – wäre in den Händen der Arbeitnehmerinnen<br />
und Arbeitnehmer und ihrer Familien, der