vollständige Diplomarbeit - Socialnet
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der Gruppe über ihre Erlebnisse zu erzählen. Lejla empfindet die Gutachterin als<br />
unterstützend und achtet sie. Sie sieht die Begutachtung selbst als Teil der Therapie, die für<br />
sie hauptsächlich darin besteht, zu reden. Die Therapeutin hat es ihr angeboten, ein Attest zu<br />
schreiben, als sie sich das erste Mal in der Gruppe öffnet. In der gleichen Situation hat die<br />
Therapeutin ihr eine Einzeltherapie empfohlen und Einzelgespräche angeboten. Lejla hatte<br />
gerade die Beerdigung ihres zuvor ‚verschwundenen’ Ehemannes in ihrem Herkunftsort in<br />
ihrer Heimatstadt in BiH besucht. Dies war das erste Mal, dass sie wieder dort war. Auch<br />
musste sie die Hoffnung aufgeben, dass ihr Mann doch noch am Leben sein könnte. In der<br />
Diagnose erläuterte die Psychologin das Ereignis als „Retraumatisierung“. („Und dann mein<br />
zweites Attest war fast drei Seiten. Und das hat, also, ich bin 1998 zur Beerdigung von<br />
meinem Mann gegangen. Nachdem, da hatte ich eine Retrau- Retraumatisierung gekriegt, da<br />
ging’s mir sehr schlecht.“) Es wäre naheliegend gewesen, wenn Lejla in einfachen Worten<br />
umschrieben hätte, dass es ihr schlecht ging. Es ist nachvollziehbar, warum die Therapeutin in<br />
diesem Attest von einer Retraumatisierung spricht, wenn der Kontext des IMK-<br />
Beschlusses 146 beachtet wird, da sie nur eine Aufenthaltsbefugnis bekommen kann, wenn sie<br />
die Diagnose PTSD erhält. Man hätte ohne Hintergrund dieses Beschlusses genau so gut in<br />
einer Fachsprache von einer Reaktivierung ihrer Symptomatik, von einer Belastungssituation<br />
oder plausibel davon schreiben können, dass es ihr schlecht ging, weil sie ihren ermordeten<br />
Ehemann beerdigen musste und nach einer langen Zeit wieder zurück in ihren Herkunftsort<br />
kehrte, mit all seinen negativen-, aber auch positiven Erinnerungen. So provoziert die<br />
Weisung u.a. eine inflationäre Benutzung des Wortes ‚Trauma’.<br />
Die Begutachtungssituation hat Lejla trotz der angesprochenen positiven Beziehung zur<br />
Therapeutin und Dolmetscherin alles andere als unterstützend wahrgenommen. Sie sollte ihre<br />
gesamte Biographie, alles aufschreiben, hat es vor sich hergeschoben, war dadurch belastet.<br />
Lejla hat auch körperlich auf diese belastende Situation reagiert, indem sie starke<br />
Kopfschmerzen bekam und wieder „Tabletten“ genommen hat. („Das war so schwer, das<br />
war so, dass ich so eine Migräne, starke Migräne gekriegt habe“ ; „so stark, dass ich mich<br />
immer zwei, drei Tage im Bett hinlegen musste und so im Dunkeln und so. Und dann hab ich<br />
wieder mit Medikamenten angefangen.“)<br />
Besonders habe sie das Medium des Aufschreibens belastet. Das Aufschreiben ist für die<br />
Erstellerin eines Gutachtens praktisch, da so eine detailreiche Information als Text vorhanden<br />
ist, die in ein schriftliches Gutachten eingearbeitet werden kann. Missverständnisse sind eher<br />
kontrollierbar im Vergleich zu den Notizen während eines Gesprächs. Es ist auch für die<br />
146 Siehe Kapitel Zwei.<br />
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