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Okkupation der Niederlande in den Jahren 1940- 1945 dem antijüdischen Terror<br />
ausgesetzt waren und diese als Vollwaisen überlebten, sei es in den Verstecken, sei<br />
es in den Konzentrationslagern“ (ebd. S. 2).<br />
Dieses Phänomen ist nicht nur als individueller Verlust der Eltern, sondern als<br />
Gruppenphänomen der planmäßigen, gezielten Vernichtung der jüdischen Gruppe als eine<br />
„traumatische Gesamtsituation“ (ebd. S. 2) zu fassen. Dabei spielte das subjektive Verhalten<br />
zu der jüdischen Bezugsgruppe eine nur untergeordnete Rolle 79 . Der direkte gesellschaftliche<br />
Bezug der Verfolgung der jüdischen Gruppe in einem spezifischen historisch- politischen<br />
Kontext ist für Keilson zentral. Eine individuelle Betrachtung der Einzelschicksale hieße, die<br />
Lebenslagen der Untersuchten „miß[zu]verstehen“ (ebd. S. 55). Mit der Fassung der<br />
Lebensereignisse der jüdischen Kriegswaisen als man made desaster wird „zugleich die<br />
psychologische und die historisch- politische Dimension des Verfolgungsgeschehens“ (ebd. S.<br />
54) beschrieben. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges lebten in den Niederlanden 2041<br />
jüdische Kriegswaisen, die Krieg und Verfolgung in Europa überlebten, und 401 sog.<br />
‚indische’ Waisen, die aus der ehemaligen Kolonie Niederländisch- Indien aus japanischen<br />
Konzentrationslagern in die Niederlande zurückkehrten. Für all diese Kinder mussten bis zur<br />
Volljährigkeit Entscheidungen „hinsichtlich der Vormundschaft und des zukünftigen<br />
Erziehungsmilieus getroffen werden“ (ebd. S. 5). Zur Klärung dieser Fragen wurden in sog.<br />
‚Streitfällen’ „ausführliche psychiatrische Gutachten, meist von Child Guidance Clinics und<br />
der sozialpsychiatrischen Abteilung der jüdischen Waisenorganisation“ (ebd. S. 10) verfasst.<br />
‚Traumatisierungen’ erlebten die von Keilson betreuten und untersuchten Kinder in<br />
verschiedenen Situationen. Keilson betont, dass die Traumatisierung der Kinder auch nach<br />
Kriegsende weitergeht, als die Zeit der Verarbeitung anbricht und aus unterschiedlichen<br />
Bedingungen doch nicht verarbeitet werden kann. Von historisch kontextualisierten<br />
„traumatischen Situationen“ (ebd. S. 61) ausgehend, definiert er drei Sequenzen:<br />
• Erste Sequenz<br />
Zeitlich umfasst die erste traumatische Sequenz die Beginnphase der Verfolgung, die<br />
deutsche Besetzung der Niederlande mit dem beginnenden Terror gegen die jüdische<br />
Minderheit. „Sie enthält alle Ängste der Besetzung der mit dem Abbröckeln des<br />
Rechtsschutzes und mit dem Tragen des gelben Sternes beginnenden und sich immer<br />
schärfer anlassenden Verfolgung (kumulierend in den Razzien und den Deportationen);<br />
den Angriff der [...] Integrität der Familie, der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz,<br />
die Ghettoisierungen die ängstliche Erwartungshaltung der kommenden Untaten, das<br />
79 „Das einzigartige Charakteristikum der damaligen Situation war, dass nicht die Selbstinterpretation dieser<br />
Gruppe oder die Interpretation des Einzelnen bezüglich seiner Zugehörigkeit letzthin dessen Verhalten in einer<br />
bestimmten- c.q. drohenden- Situation reguliert, sondern die Interpretation anderer, fremder Individuen oder<br />
Mehrheitsgruppen über das Schicksal der Angehörigen der jüdischen Gruppe entschied.“ (ebd. S 36) Ähnliches<br />
kann über bosnische Flüchtlinge gesagt werden, nämlich dass die Selbstinterpretation über die<br />
Gruppenzugehörigkeit im Krieg oder auch als Flüchtling in der BRD eher unwesentlich ist, im Vergleich zu<br />
Fremdzuschreibungen und deren konkrete Auswirkungen.<br />
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